Rom/Wien – Der Europäische Theaterpreis 2017 wurde am Sonntag in Rom vergeben, die Preisträger –von Jeremy Irons und Isabelle Huppert über Yael Ronen bis hin zu Wole Soyinka – haben in den Tagen davor am Podium Rede und Antwort gestanden. Ein kleiner Überblick mit Videoeinblicken.

Schauplatz war übrigens der Palazzo Venezia. Mitte des 15. Jahrhunderts vom venezianischen Kardinal Pietro Barbo erbaut, wurde er nach dessen Wahl zum Papst für kurze Zeit Sitz von Paul II. 1797 ging der Bau mit dem Frieden von Campo Formio ins Eigentum Österreichs über, im Ersten Weltkrieg wurde er dann von Italien eingezogen und diente schließlich Mussolini als Regierungssitz. Mit seinen illusionistischen Malereien auf den planen Wänden kann er ein schönes, wenn auch nicht hinreichendes Bild abgeben für das Theater: zeigen, was sein könnte; spielen mit Sein und Schein und mit der Wirklichkeit. (wurm, 19.12.2017)

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Europäischer Theaterpreis: Denn das Theater soll die ganze Welt retten

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Premio Europa

Jeremy Irons teilt sich den Europäischen Theaterpreis mit Isabelle Huppert. "Schauspielen ist wie Liebe machen – wenn es nicht läuft, schaut einander in die Augen und versinkt darin", verbreitete er beim Podiumsgespräch Humor, Wohlgefühl und Anekdoten. Ein Regisseur sei wie ein Koch, der die Zutaten zusammenbringt – "ich bin nur eine Karotte."

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Schauspielen sei nicht schwierig, ob vor der Kamera oder auf der Bühne, bekannte Isabelle Huppert. Schwieriger sei es, die richtigen Stoffe und Drehbücher zu finden. große neugier attestierten ihr am Podium u. a. ihre Schwester und Patti Smith.

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Dimitris Papaiannou, ausgezeichnet für "Theater-Wirklichkeiten", erarbeitet seine Performancestücke wie "Primal Matter" praktisch ohne vorherigen Plan. Er kommt aus der Malerei, von der er das Schauen gelernt hat, daraus folgen visuelle Assoziationen. Seine Company, die Dimitris Papaiannou ab 1986 siebzehn Jahre lang führte, hat er Anfang der 2000er aufgegeben zugunsten freier Künstler – er wollte nicht länger dem durch eine Company geforderten Rahmen (etwa zahl der Performer) zuproduzieren müssen. Papaiannou zeichnet auch für die Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele in Athen und Aserbaidschan verantwortlich – das sei nicht freie Kunst als Ausdruck, sagte er, sondern die Aufgabe, etwas Schönes zu machen.

Dimitris Papaioannou

Die in Deutschland geborene Susanne Kennedy hat in Holland Regie studiert, das hat sie geprägt: Dort seien schon die Räume anders, nämlich kleiner, was auch anderes Sprechen und Spielen, nämlich intimeres und kleineres, hervorbringe. An deutschen Stadttheaterbühnen behaupteten hingegen jeder Ton und jede Geste Wichtigkeit. Sie will das Publikum hypnotisieren und einsaugen in ihre sehr grellen Theaterwelten. Sie suche eine heutige Form für dieses antike Ritual, meinte sie, das wirke manchmal auch trashig. Theater brauche allgemein viel länger als andere Kunstformen, "heutig" zu sein in Themen und Formen. Ausgezeichnet wurde sie für "Theater-Wirklichkeiten".

Auf einer hyperaktiv blinkenden Bühne zeigte sie dann auch ihr neuestes Stück "Virgin Suicides" – frei nach dem Roman von Jeffrey Eugenides. Die trashig überreizte Bühne macht als verwirrter Ort zerstörter Kindheit Sinn. Beklemmend unheimlich klangen die verzerrten Playback-Stimmen.

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Über den slowenischen Regisseur Jernej Lorenci wurde in Abwesenheit gesprochen. Er, ausgezeichnet für "Theater-Wirklichkeiten", sei einer von vielen Vertretern des nur zwei Millionen Einwohner zählenden Landes mit großem Einfluss auf das Theater im Raum des früheren Jugoslawien. Wie vielen Regisseuren dieses Teils von Europa sei er aber darüber hinaus eher unbekannt. Er sehe sich beim Regieführen weniger als Autorität denn als Anstoß, er biete den Schauspielern wenig an und sie müssten sich dann als Personen einbringen, erzählte er in einer Videodokumentation. Lorenci mag Extreme und große Narrative der Gesellschaft. Etwa hat er für ein Stück serbische Dichtung des Mittelalters verarbeitet. politisch will er seine Arbeit nicht verstanden wissen, obwohl sie es in vielem ist.

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Die aus Jerusalem stammende und ebenso für "Theater-Wirklichkeiten" ausgezeichnete Yael Ronen hat mit ihrer Company am Maxim Gorki Theater in Berlin ihre Heimstätte gefunden. Gemeinsam entwickeln sie Stücke, die sich zum einen durch Generation-Y-Themen auszeichnen und zum anderen das Jüdischsein und Herkunft aus Israel thematisieren. Themen wie Schuld, Heimat etc. behandelt sie mit Humor, einem Spiel mit Klischees und politischer Unkorrektheit, dem Bruch von Tabus. bekannt ist sie in Österreich u. a. vom Schauspielhaus Graz und dem Wiener Volkstheater. In Rom zeigte sie "Roma Armee" über die Ungerechtigkeiten und Verbrechen gegen die Volksgruppe.

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Die in Rom für das Stück "NO43 – Filth" viel bejubelte Ene-Liis Semper startete als Setdesignerin und Performancekünstlerin. 2004 gründete sie in Tallin ihr Theater NO99. Die Proben mit dem fixen Ensemble – sich nicht zu wiederholen sei da besonders herausfordernd – bestünden aus Gesprächen und Improvisationen, die am Ende fixiert werden. Ausgangspunkt seien sehr simple Ideen, so Semper. Dafür gab es den preis für "Theater-Wirklichkeiten". Der Name NO99 stehe für die 99 Produktionen, die zu machen sie das Theater gegründet hat – etwa 30 stehen noch aus.

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Marina Davydova stellte den russischen Regierungskritiker Kirill Serebrennikov vor. Er steht in seiner Heimat aktuell unter Hausarrest.

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Das Individuum und das Kollektiv sind häufig Thema in den Arbeiten von Alessandro Sciarroni, eine Einsamkeit des Einzelnen häufig Resultat. "I am an artist, I don't like to study", verwies er darauf, dass seinen Arbeiten nie philosophische Theorien zugrunde lägen. Dafür Ästheitik und Gefühl. Auch Text mag der Italiener nicht, da gebe es so viel Bedeutung, die schwierig wegzubekommen wäre. Marina Abramovic hat ihn früh sehr beeindruckt – sie sei für die Performance, was Madpnna für die Popmusik bedeute, sagte er am Podium. Fürs Theater seien seine ersten Stücke zu reduziert und kurz gewesen, also versuchte er, sie bei Tanzfetivals unterzubringen. Mit Erfolg. Mit Lauten – Geschrei, Lachen – will er demnächst arbeiten. "Untitled" kommt ohne solche aus und lehrt: Jonglieren kann man gegeneinander oder miteinander.

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1966 wurde in Tunesien die erste private Thetercompany gegründet, heute gebe es 642, erzählte der tunesische Theatermacher Fadhel Jahibi. Für ihn gab es beim premio Europa eine Spezielle Erwähnung. Er schöpft aus der arabischen Tradition, dem Geschichtenerzählen und Alltagsproblemen, mache "ein freies Theater freier Bürger". Dazu gehe er hinaus, sucht soziale, politische, kulturelle Archetypen unter den Zeitgenossen. Zensur sieht er als Glück für die Theatermachenden, weil sie einerseits Konfrontation hervorbringe und zum anderen als ein Zeichen für die Wirksamkeit des Kampfs, den er führt. Man habe sich während des Arabischen Frühlings nicht so eine harte Folgezeit erwartet, gab er einen kleinen Zustandsbericht zu Hoffnungen und Lage im Land.

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Wole Soyinka, der Literaturnobelpreisträger von 1986 und Menschenrechtsaktivist aus Nigeria, hat mit seinen Shotgun Plays, politischen Sketches, zum Beginn eines zeitgenössischen und politischen Theaters in Nigeria beigetragen. Dafür bekam er den Spezialpreis. Theater passiere in Nigeria nicht so stabilisiert in einem Theaterraum, sagte er unter anderem, sondern wo es eben passiere. Auch Anekdoten gab er bereitwillig preis – auch jene, dass er oft mit Schauspieler Morgan Freeman verwechselt werde.

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"Ich bin überzeugt, dass Theater die Welt retten wird", stellte der italienische Regisseur Barberio Corsetti fest. Von ihm gab es Shakespeares "Re Lear" zu sehen.

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Der Theaterwissenschafter Georges Banu meinte in seinem Vortrag, das europäische Theater heute habe seine früheren Techniken vergessen, aus seiner Tradition seien ihm bloß die Texte geblieben. Das westliche Theater sei auf Innovation und neue Formen aus, sei offen für Einflüsse von außen, will Revolution, Freiheit, Radikalität. Ganz anders als das östliche, wo im No-Theater Form und Technik strikt bewahrt werden.

Foto: Franco Bonfiglio