Noch bevor der frisch angelobte Bundeskanzler im Nationalrat seine erste Regierungserklärung abgeben konnte, kam es zwischen ihm und den Oppositionsparteien zu einem ersten Konflikt in Sachen Europapolitik. Sebastian Kurz fliegt Dienstagabend nach Brüssel, wo er noch in der Nacht die Chefs der wichtigsten EU-Institutionen, Jean-Claude Juncker und Donald Tusk, trifft. Vor dem Rückflug am Mittwoch spricht er auch noch mit internationalen Journalisten. Vertreter von SPÖ, Neos und Pilz-Partei warfen ihm eine "Missachtung des Parlaments" in Wien vor.

Begründung: Wegen des Kanzlers Reiseplänen könne das Plenum erst nach Mittag die türkis-blauen Vorhaben bis 2022 debattieren. Offenbar seien dem Kanzler solche Treffen in der EU-Hauptstadt wichtiger als die Abgeordneten zu Hause.

Dieses atmosphärische Scharmützel klingt läppisch. Es ist relativ unbedeutend, ob der Nationalrat eine Sondersitzung ein, zwei Stunden früher oder später beginnt, vermutlich ist es auch für einen Kanzler von Österreich nicht so einfach, in kurzer Frist einen Termin mit beiden EU-Spitzen zu bekommen.

Aber dass Kurz so rasch die EU-Partner einbindet und konsultiert, ihnen garantiert, dass Österreich selbstverständlich alle EU-Verträge und -Regeln einhalten wird, ein zuverlässiger Integrationspartner bleiben wird, ist nicht nur kein Fehler. Es ist nach den bitteren Erfahrungen mit den sogenannten "EU-Sanktionen" gegen Schwarz-Blau im Jahr 2000 auch heilsam. Er zeigt damit "Wir sind EU" und nicht "Mia san mia!" – in Wien und in Brüssel.

Empörung über Nebensächlichkeiten

Wenn VP-Kanzler Wolfgang Schüssel nach dem umstrittenen Pakt mit Jörg Haider einen kapitalen Fehler gemacht hat, dann den, dass er den Partnern die heikle innenpolitische Lage nicht erläutert hat. Leiden musste dann das Land und sein Ruf.

Die Episode um Flugpläne und Tagesordnungen ist aber für die Behandlung des Themas Europa in der Innenpolitik nicht untypisch. Im Zweifel empört man sich lieber über Nebensächlichkeiten, nährt Neid und Streit, statt dass man sich mit wesentlichen politischen Fragen im EU-Zusammenhang eingehend und seriös beschäftigt, die für ein voll integriertes Mitglied in Zukunft entscheidend sind: Euro, Budget, Außenhandel, Sicherheit. Das gilt für die Opposition, vor allem aber für die neue türkis-blaue Regierung. Was Kurz und Strache sich bezüglich der heimischen EU-Politik ins Programm geschrieben haben, ist inhaltlich ein wenig dünn. Gewiss, es gibt das Bekenntnis, dass Österreich "proeuropäisch" bleiben wird, ein EU-Austritt (Öxit) auszuschließen sei.

Aber das sind eigentlich Selbstverständlichkeiten. Man muss sie eigens betonen, weil einer der Regierungspartner die FPÖ ist. Als EU-skeptische Partei bleibt sie aus EU-Partnersicht die Schwachstelle, solange sie aktives Mitglied der ENF-Fraktion der extrem rechten Parteien im EU-Parlament ist. Es war mehr als Pikanterie, dass beim ENF-Kongress in Prag die "Auflösung der EU" gefordert wurde, als FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache in Wien mit Kurz den Koalitionspakt vorstellte.

Nicht nur das wird der Kanzler erklären müssen. Er wird vor allem sagen müssen, ob Österreich wie bisher bei den großen Integrationsthemen an Bord bleibt. Das sind die Vertiefung der Währungsunion, eine integrierte Migrations- und Flüchtlingspolitik – mit Lösungen, die transnational gedacht sind, nicht national, wie das im Programm zu lesen ist. (Thomas Mayer, 18.12.2017)