Muss sein Kanzlerbüro für eine Regierung räumen, der er wenig zutraut: Christian Kern.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Christian Kerns Tage als Bundeskanzler sind gezählt, jetzt muss er als Oppositionschef sprechen: "Wir haben eine Wahlauseinandersetzung erlebt, in der unglaublich viel angekündigt und versprochen wurde. Und wir müssen jetzt feststellen, dass in Rekordzeit alle Versprechungen über Bord geworfen wurden", sagte der SPÖ-Vorsitzende unmittelbar nach Bekanntgabe des Regierungsprogramms der türkis-blauen Koalition am Samstag. Und: ÖVP-Chef Sebastian Kurz habe die Wählerinnen und Wähler getäuscht, Strache habe sie verraten.

Das einzige Versprechen, das eingelöst wurde, sei, "dass die ÖVP die FPÖ in die Regierung geholt hat", die dort nun für das gesamte Sicherheitsressort und die Geheimdienste zuständig ist. Kern: "Das empfinden nicht nur große Teile der Bevölkerung als unangenehmem. Wir tun das auch."

Partnersuche in der Zivilgesellschaft

Aus Sicht der SPÖ lässt sich das Regierungsprogramm auf einen Punkt bringen: "Von den angekündigten Leuchttürmen bleibt nur ein Berg leerer Zigarettenschachteln." Kern kündigte an, seine Oppositionsrolle als Partner der Zivilgesellschaft anlegen zu wollen. Gemeinsam könne man versuchen, "die größten Unsinnigkeiten" zu verhindern.

Auch die Neos zeigten sich wenig freundlich. Inhaltlich sind sie vom neuen Regierungsprogramm wenig überrascht: "Das Programm selbst muss man sich erst im Detail ansehen. Die Überschriften, die bisher genannt wurden, lassen aber auf wenig progressive Ideen schließen, wenngleich es auch einige gute Vorschläge vor allem in Wirtschaftsfragen gibt, deren Umsetzung wir sehr genau verfolgen werden", sagte Neos-Chef Matthias Strolz.

Neos fordern Ministerhearing

Er fordert angesichts der vielen Quereinsteiger in der künftigen ÖVP-FPÖ-Regierung (die deutsche Zeitung "Die Welt" schreibt von "Neubeginn mit 15 Neulingen") ein öffentliches Hearing mit den neuen Ministerinnen und Ministern.

Peter Kolba, der Klubobmann der Liste Pilz, kritisiert, dass mit Mario Kunasek ein "rechtsrechter FPÖ-Politiker" mit Kontakten zu den rechtsextremen Identitären Verteidigungsminister wird. Mit Anneliese Kitzmüller, die Dritte Nationalratspräsidentin wird, steige eine weitere rechtsrechte Freiheitliche auf. Der neue Kanzler Kurz "ist hier Steigbügelhalter für Personen, die jedenfalls bislang durch eine extreme politische Haltung aufgefallen sind und nun in höchste Staatsämter aufrücken". Zur Nachhaltigkeits- und Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) sagte Kolba, die Liste Pilz werde in Sachen Umwelt Anknüpfungspunkte suchen.

Kritik der Umweltschützer

Die Pläne der Regierung insbesondere im Umweltbereich kamen bei den Nichtregierungsorganisationen Greenpeace, WWF und Global 2000 nicht gut an. Für Greenpeace hat die FPÖ beim Handelsabkommen Ceta ein zentrales Wahlversprechen gebrochen.

Global-2000-Geschäftsführerin Leonore Gewessler bereitet die offenbar intendierte Schwächung der Verfahren zur Umweltverträglichkeitsprüfung Sorge. "Allzu oft verbirgt sich daher hinter dem Schlagwort der Effizienzsteigerung ein Angriff auf Umwelt- und Beteiligungsrechte."

Lob der Industriellenvereinigung

Hocherfreut über das Regierungsprogramm zeigte sich die Industrie. Viele der präsentierten Maßnahmen hätten in ihrer Gesamtheit durchaus das Potenzial, dass Österreich in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereichen wieder zur Spitze der Industriestaaten aufschließen könne, erklärte IV-Generalsekretär Christoph Neumayer.

Bei der vorgeschlagenen Modernisierung der Arbeitszeiten gehe es nicht darum, dass die Menschen generell länger arbeiten sollen, sondern darum, in Ausnahmefällen an einzelnen Tagen länger arbeiten zu dürfen, um wichtige Aufträge oder Projekte abschließen zu können.

Ärzte warnen vor Einsparungen

Licht und Schatten sieht Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer. Licht, weil Teile der Forderungen der Ärzteschaft enthalten sind und man mit der künftigen Gesundheitsministerin Beate Hartinger (FPÖ) bereits gut zusammengearbeitet habe. Schatten gebe es, weil Österreichs Gesundheitsversorgungssystem in den vergangenen Jahren in internationalen Rankings abgestürzt sei. Das Gesundheitswesen eigne sich nicht für Einsparungen, wenn man die schneller wachsende und älter werdende Bevölkerung weiterhin auf dem gewohnt hohen Niveau medizinisch versorgt wissen wolle.

Tiroler ÖVP reibt sich an Bundespartei

Dissens gibt es aber auch aus der ÖVP, vor allem die Tiroler Landespartei versucht wieder einmal, sich gegen Wien zu profilieren: "Maßlos enttäuscht" zeigte sich die Tiroler Bauernbund-Führung über die Nichtberücksichtigung von Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter im neuen Regierungsteam. "Das ist für den Tiroler Bauernbund und die gesamte Bauernschaft in unserem Land ein Schlag ins Gesicht", kritisierte Bauernbund-Obmann und Landeshauptmann-Stellvertreter Josef Geisler.

Der Tiroler Bauernbund-Direktor Peter Raggl legte nach: Rupprechter habe bei der Nationalratswahl "österreichweit eines der besten Vorzugsstimmenergebnisse eingefahren". Damit habe er bewiesen, dass der Rückhalt in seiner Wählerschaft "enorm ist".

Schützenhilfe aus Niederösterreich

Daraufhin musste der Präsident des Österreichischen Bauernbunds, der Niederösterreicher Georg Strasser, ausrücken, um die Wogen zu glätten: Der Bauernbund sei "äußerst zufrieden mit dem Regierungsprogramm" und dem mit der Kärntner Bauernbündlerin Köstinger besetzten Nachhaltigkeitsressort, in dem Rupprechters bisherige Agenden aufgehen.

Lob für die Koalition gab es aus den anderen Landesorganisationen der ÖVP. Vor allem die niederösterreichische ÖVP, die als Nächste Landtagswahlen zu schlagen hat, überschlug sich förmlich mit Unterstützungserklärungen für die neue Regierung und den türkisen Bundeskanzler. (cs, APA, 16.12.2017)