Wenn man diese Tage, die man in beständiger Bewegung zwischen Lesetischen in verschiedenen Städten verbringt, in einen Film komprimiert, der am Ende der Lesereise vor dem inneren Auge abgespielt wird, den Nahtoderfahrungen nicht unähnlich, kommt bei mir derzeit folgendes raus: Zug eins rein. Deutsche Bahn. Verspätung von 30 Minuten. Niemand murrt, das ist schon zur Gewohnheit geworden. Kurz vor dem Ziel folgt die trockene Durchsage: "Meine Damen und Herren, vergessen Sie nichts und niemanden!"

Zug zwei ist pünktlich, vermeldet jedoch kurz nach der Abfahrt einen "gastronomischen Zwischenfall", dem Tonfall nach zu urteilen könnte es sich um die Brisanz eines mittleren Super-GAUs im Bordbistro handeln. Todesmutig schaffen wir es dennoch bis Nürnberg, von wo aus ich es, von quälenden Vorstellungen getrieben, wie so ein Zwischenfall wohl beschaffen ist, nach Augsburg schaffe.

Eine Kombination beider Erlebnisse kulminiert unerwartet in Deggendorf in einer griechischen Tragödie am bayerischen Tresen. Kellnerin eins (revolutionär-subversiv gekleidet in Dirndl und Leggings mit Sportschuhen) weigert sich lautstark, das Besteck ordnungsgemäß zu putzen. Kellnerin zwei (korrekt mit hochgesteckten Zöpfen und in reschem Dirndlklassiker) vergisst sich und wirft dramatisch sämtliche Küchentüren mit dem Kampfschrei "Ich oder sie!" zu, begleitet von unzähligen, plötzlich hellwachen Augenpaaren an der Bar.

Ich tendiere dazu, das als gastronomischen Zwischenfall einzustufen, die Ente mit Kartoffelknödeln, Rotkraut und gebratener Orangenscheibe ist aber dennoch superb und wirft mich um Lichtjahre in der Diät zurück. Aber alle Enten führen bekanntlich nach Weihnachten, und griechische Tragödien sind sowieso nur eine kleine Aufwärmübung für die kommenden Feiertage.

Ich bin jetzt gut vorbereitet. Sämtliche Kinderlein, die zu den Lesungen gekommen waren, waren übrigens die reinen Engelchen. Also: alle Jahre wieder. (Julya Rabinowich, 15.12.2017)