Der alte Kaiser ist ratlos: Johann Adam Oest als Kaiser Franz Joseph in Johan Simons' szenischer Einrichtung von "Radetzkymarsch".

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Joseph Roths posthume Liebe zur Habsburgermonarchie war eine heroische. Roth liebte den Vielvölkerstaat umso inniger, je weniger er sich an seine abstoßenden Züge erinnern konnte. Die Zuckungen seines lauteren Herzens haben der Weltliteratur den großen Liebesroman "Radetzkymarsch" (1932) beschert: eine Untergangssaga über drei Generationen, ein waidwundes Abschiednehmen von der Idee des – von Gott wohleingerichteten – Vaterlandes.

Roth schließt die Chronik des Vielvölkerstaats mit einem Seufzer des Bedauerns. Der Leutnant von Trotta verschwindet zusammen mit seinem obersten Kriegsherrn, Kaiser Franz Joseph, im Tumult des Ersten Weltkriegs. Im Wiener Burgtheater hat man das Inventar der Donaumonarchie durch Gummi und Druckluft ersetzt. An der Rampe stehen einige Schauspieler in Woll- und Leinenunterwäsche. Die Figuren des Romans haben ihren leichtbekleideten Auftritt.

Theatralische Buß- und Andachtsübung

Die eigentlichen Helden dieser theatralischen Buß- und Andachtsübung sind jedoch andere. Sie sind von kugelrundem Aussehen. Man kann sie knautschen, am Schwänzchen packen oder auf ihnen ruhen. Manche von ihnen ziehen majestätisch wie Schäfchenwolken ins Parkett hinunter, wo ihnen ein wohlgemeinter Stups zu einigem Auftrieb verhilft.

Rund zwei Dutzend Luftballons dominieren Johan Simons‘ Blick auf Roths Chronik eines angekündigten Weltuntergangs (Bühne: Katrin Brack). Einige quietschbunte messen bestimmt zwei Meter im Durchmesser. Den Burgtheaterbesuchern verstellen sie gelegentlich den Blick auf die Aktionen. Aber die ganze Inszenierung dieses von Koen Tachelet klug eingedickten Romans gleicht ohnehin einer Stellprobe. Das wunderbare Burg-Ensemble gelangt mit den Joseph-Roth-Figuren zu keiner Übereinkunft, schon gar nicht zur Deckung.

Es hält sich, wollig warm gekleidet, die Scherben der in tausend Teile zerspringenden Monarchie vom Leibe. Man könnte auch sagen: Die Trauer über den Untergang des Kaiserreichs ist knapp hundert Jahre später noch immer so groß, dass man alle Anwandlungen von Spiellust von vornherein unterdrückt. Und so werden die hellen blauen Röcke des Kaisers anprobiert und wieder ausgezogen, als würde der Umgang mit Roths literarischer Trauermusik die Beteiligten zu nichts verpflichten.

Carl Joseph von Trotta (Philipp Hauß) trägt nicht nur die Bürde, in direkter Linie von einem Heros abzustammen. Er besitzt einen ausnehmend hüftsteifen Bezirkshauptmann (Frank Rockstroh) als Vater, der funkelnden Auges die Schönheiten der Pflichterfüllung wie ein Gedicht aufsagt. Ein schneidiger Kapellmeister (Daniel Jesch) dirigiert unhörbar den titelgebenden Militärmarsch, während die Masse der Mitwirkenden, Schauspieler und Komparsen, im Hintergrund sitzt, als wäre sie auf die lange Bank der Zeitgeschichte geschoben.

Um den heißen Brei des Romans

Der junge Trotta (Hauß) fühlt sich in seiner Haut nicht wohl. Da helfen auch die vielen flüchtigen Umarmungen mit der Femme fatale der Provinzgarnisonen wenig. Andrea Wenzl gibt die ewig lockende Lulu der Offizierskasinos, ein hübscher Gruß an Arthur Schnitzler.

Trotta verfällt während dieser gut drei Stunden zu einem wahrhaft bejammernswerten Häufchen Elend. Ihm kommen nacheinander der Sinn des Lebens und die Funktionen der Leber abhanden. Er muss aber vor allem vorne an der Rampe ausharren. Vielfach schleichen die Figuren in der Tiefe des Raums um den heißen Brei des Romans herum. Steven Scharf gibt erst als jüdischer Regimentsarzt, später als verlotterter polnischer Graf feine Proben einer Dämonie mit wasserhellen Augen.

Man findet dennoch aus dem Staunen nicht heraus. So todlangweilig soll Joseph Roths weltberühmter Roman gewesen sein? Die Krone in dieser doch leider missratenen Aufführung gehört, wie könnte es anders sein, dem Kaiser. Johann Adam Oest gleicht dem historischen Franz Joseph von Habsburg in keinem Detail. Er zeigt nur, was es bedeutet, es mit der ganzen Welt gut zu meinen und doch kein Jota von ihr zu verstehen.

Oests Mund formt Silben der Leutseligkeit, während ihn ein dicker gelber Luftballon am Kopf touchiert. Der Kaiser, ein Gespenst, hält inne. In diesem raren Augenblick liegt das ganze Geheimnis des gewaltigen Stoffs. Er hätte nur nicht episch ausgehungert werden dürfen. (Ronald Pohl, 15.12.2017)