"Manchmal wär ich gern schöner, doch das geht auch weg. Ich bin kein Modelmädchen, ich bin komplett unperfekt": Julia Engelmann.

Foto: Marta Urbanelis

Wien – "Ich glaube nicht, dass ich jemals zu den 'Coolen' gehört habe oder gehören werde." Wie Julia Engelmann das sagt, schwingt keinerlei Bedauern mit. Dazu hat die 25-Jährige auch keinen Grund.

Vor vier Jahren wurde die Studentin mit dem blonden Zopf über Nacht mit einem Youtube-Video berühmt. Es war nicht länger als fünf Minuten und 47 Sekunden. "Eines Tages, Baby, da werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein. Und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können": Der Vortrag der bis dahin unbekannten Poetry-Slammerin Julia Engelmann, in einem Hörsaal der Uni Bielefeld aufgenommen, entfaltete seine Strahlkraft erst im Internet – beim Hörsaal-Slam hatte ihr Auftritt nur den fünften Platz belegt.

Ideologiebefreit

Im Netz wurde das Youtube-Video elf Millionen Mal anklickt. Engelmann appelliert darin an ihre Zuschauer, Träume zu verwirklichen und auch mal auf Hausdächer zu steigen. Die Psychologiestudentin traf einen Nerv. Viele wischten sich die Tränen aus den Augen: Gymnasiastinnen, deren Mütter und Großeltern, die sich um ihre ständig verkabelten Kinder und Enkelkinder sorgten.

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Endlich eine aus der Generation Smartphone, deren Sehnsüchte man verstand. Engelmann machte sich den Taumel der Begeisterung gleich zunutze. Sie trat im Vorprogramm von Tim Bendzko auf, brachte drei Gedichtbände mit eigenen Strichzeichnungen heraus (die hießen der Einfachheit halber Jetzt, Baby, Wir können alles sein, Baby und Eines Tages, Baby), im November dieses Jahres dann die erste Platte. Engelmann will jetzt Popstar sein.

Poesiealbum heißt die erste Platte, die "Queen of Uncoolness" (Der Spiegel) ist mittlerweile Vollprofi und bei Universal unter Vertrag. Ihr Studium hat sie abgebrochen, dafür ist sie in deutschen Talkshows gesessen. Dort hat sie erklärt, wie man zum Gesicht einer Generation wird. Ihre freundliche Unverbindlichkeit hat ihr mehr genutzt als geschadet. Engelmann sieht mit ihren Sneakern und dem Haardutt wie das Suchergebnis von "Studentin" und "irgendwas mit Medien" aus. Sie wirkt ideologiebefreit, ihre Haltung kann man nur erahnen.

Julia Engelmann "Grüner wird's nicht"
JuliaEngelmannVEVO

Im Gespräch sagt die 25-Jährige Sachen wie: "Ich interessiere mich durchaus für Debatten wie #MeToo, ich spreche auch mit meinen Freunden über politische Dinge, laut machen kann ich aber am besten meine eigenen Gefühle." In Engelmann, die jetzt mit ihren Eltern auf Tour gegangen ist, kann viel hineingeschrieben werden. Die einen umarmen sie, Kritiker wie Jan Böhmermann machen sich über den schmerzbefreiten, deutschsprachigen Industriepop lustig. Engelmann polarisiert, obwohl Engelmann genau das gar nicht will: Die Deutsche ist jünger und glatter als die Wir-sind-Helden-Sängerin Judith Holofernes, beredter als das Schlagerbiest Helene Fischer, weniger schmollmundig als Annett Louisan.

Die Texte für ihr Poesiealbum hat die 25-Jährige selbst geschrieben, das Album wurde (bis auf zwei Lieder) "von Menschen komponiert, auf deren Geschmack ich vertraue", so Engelmann. Die Finger mit im Spiel hat Ali Zuckowski. Er weiß, was die Masse will. Er hat die schwülstige Song-Contest-Ballade Rise Like A Phoenix an Conchita Wurst vermittelt und auch schon mit Christina Stürmer zusammengearbeitet.

Julia Engelmann "Grapefruit" aus "Jetzt, Baby".
Julia Engelmann

Ich, ich, ich

Und so plätschern Wehmut und Weltschmerz in homöopathischen Dosen durch Engelmanns Lieder. Sie sind wie dafür gemacht, in der Produktwelt von Tchibo gleich neben den Dekokugeln und elektrischen Milchaufschäumern platziert zu werden. Das würde ihren Fans auch gar keine Probleme bereiten. Engelmanns Mutmachmusik wird von Menschen gehört, die selten Konzerte besuchen, aber dann zwischen 30 und 50 Euro für den einen Abend mit ihr zahlen.

Dafür ist klar, was da kommt. Engelmann wird nett lächeln, auf der Bühne mit Konfetti um sich werfen, viel "ich, ich, ich" singen und der Menge trotzdem vermitteln, ganz bei ihr zu sein: "Manchmal wär ich gerne schöner, doch das geht auch wieder weg. Ich bin kein Modelmädchen, ich bin komplett unperfekt." In den Ohren von Engelmanns Fans klingt das nicht kokett, nicht verlogen und nicht abgedroschen. In den Ohren der Fans klingt das authentisch. (Anne Feldkamp, 9.12.2017)