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In der deutschen Provinz machte sich ein junger Mann auf den Weg, um im Alleingang für das Schöne im Bewusstsein seiner Zeitgenossen neue Maßstäbe zu finden: Johann Joachim Winckelmann.

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In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schlug für die europäische Geistesgeschichte die Stunde der Autodidakten. Erst Aussteiger, dann Aufsteiger veränderten die aus kleinen Verhältnissen stammenden Enthusiasten die großen Verhältnisse grundlegend. In Frankreich kehrte Diderot, Sohn eines Messerschmieds, der vom Vater eingeforderten geistlichen Karriere den Rücken und stellte das enzyklopädische Wissen seiner Zeit in den Dienst einer den Umsturz vorbereitenden Aufklärung.

Von Genf aus pilgerte der Uhrmachersohn Rousseau auf langen Wanderungen seinem Lebensthema einer aus den gesellschaftlichen Fesseln befreiten Naturnähe entgegen. In der deutschen Provinz indes machte sich im altmärkischen Stendal ein junger Mann auf den Weg, um im Alleingang für das Schöne im Bewusstsein seiner Zeitgenossen neue Maßstäbe zu finden.

Mit der Inbrunst des selbstständig Lernenden stürzte sich Johann Joachim Winckelmann, Sohn eines Flickschusters, in das Studium der antiken Quellen, insbesondere der Werke von Pausanias und Plinius, aber auch der vernachlässigten griechischen Klassiker. Der Bücherstaub in den Gelehrtenstuben stieß ihn ab, er suchte die freie Luft besserer menschlicher Zustände, die er in der Welt des überlieferten Griechentums zu finden meinte. Diese ganz auf das Diesseits gerichtete Lebensform faszinierte den vom Mief des klerikalen Duckmäusertums angewiderten Theologiestudenten.

Der Überladenheit von Spätbarock und Rokoko sollte eine den Maßgaben schlichter Natürlichkeit und Größe zugewandte Kunstauffassung entgegengesetzt werden. Das ästhetische Empfinden des Junggelehrten verlangte von der Kunst harmonische Proportionen, Reinheit des Ausdrucks und gelassene Klarheit – Werte, die er bei der griechischen Kunst der Antike, insbesondere bei den überlieferten Artefakten der Plastik, zu entdecken meinte.

Eine edle Einfalt

Als beispielhaft für die These, mit der die ästhetische Würde und sinnliche Gegenständlichkeit der griechischen Kunst begründet wird, gilt die vielzitierte Formulierung Winckelmanns aus seiner Erstlingsschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1755): "Das allgemeine Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist eine edle Einfalt und stille Größe – sowohl in der Stellung als im Ausdrucke."

Winckelmanns Emanzipationsgeschichte ist die seiner Epoche. Der vor 300 Jahren, am 9. Dezember 1817, in Stendal in ärmlichen Verhältnissen geborene Gelehrte wurde einer der maßgeblichen Brückenbauer der Kulturgeschichte. Ihm glückte ein kometenhafter Aufstieg vom Provinzkind bis zum Archivarius im Vatikan. Zuvor galt es, nach allerhand untergeordneten Tätigkeiten als Chorsänger, Hauslehrer und gräflicher Sekretär sowie dem Übertritt zum Katholizismus den Weg aus der deutschen Enge nach Rom zu finden, wo er erst Bibliothekar, dann Verwalter großer Kunstsammlungen wurde.

Unbekümmert um den ihn umgebenden Römergeist fuhr er mit beharrlichem Forscherfleiß fort, das Land der Griechen mit der Seele zu suchen. In seiner bahnbrechenden Geschichte der Kunst des Altertums (1764) verstand er es, aus einer Fülle fragmentarischer antiker Fundstücke, oft nur altrömischer Kopien, ein erahntes Panorama griechischer Kunst zu schaffen und sie in später weitgehend bestätigte Stilepochen zu gliedern.

Schönheit als der größte Zweck

Mit der Wiedergeburt der griechischen Antike propagierte Winckelmann ein neues Menschenbild, in dem er, wie Goethe es beschrieb, "im Menschen den wichtigsten, wenn nicht den einzigen Gegenstand" künstlerischen Schaffens sah. Diese humanistische Haltung stärkte die Würde des Einzelnen wider feudale Unterdrückung und bezog ihr idealisiertes geschichtliches Vorbild aus den Rechten der Vollbürger in der attischen Demokratie.

Winckelmann wurde vieles zugleich: Begründer der modernen Kunstgeschichte, Vater der wissenschaftlichen Archäologie, Antiquar, Wegbereiter der Weimarer Klassik und nicht zuletzt einer der wirkungsmächtigsten Autoren des 18. Jahrhunderts.

Die in seinen Sinnen geformte klassische Schönheit hat ein Jahrhundert lang nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Zentren die Geister bewegt. Die Frage des "Schönen" wurde in einer Flut ästhetischer Schriften erörtert, vor allem in Frankreich und England. In Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums heißt es: "Die Schönheit, als der höchste Endzweck und als der Mittelpunkt der Kunst, (...) ist eins von den großen Geheimnissen der Natur, deren Wirkung wir sehen und alle empfinden, von deren Wesen aber ein allgemeiner deutlicher Begriff unter die unerfundenen Wahrheiten gehört. Wäre dieser Begriff geometrisch deutlich, so würde das Urteil der Menschen über das Schöne nicht verschieden sein, und es würde die Überzeugung von der wahren Schönheit leicht werden."

Das Wesen des guten Stils

"Reine Objektivität der Darstellung", schrieb später Schiller, "ist das Wesen des guten Stils: der höchste Grundsatz der Künste." Und Goethe hielt es 1798 in der Einleitung in die Propyläen für entscheidend, "dass ein Künstler sowohl in die Tiefe seines eignen Gemüts zu dringen vermag, um in seinen Werken nicht bloß etwas leicht und oberflächlich Wirkendes, sondern, wetteifernd mit der Natur, etwas geistig Organisches hervorzubringen." Das bedeutete entschiedene Abwehr von romantischen Phantasmagorien und irrationalen Spekulationen fern eines Gegenstandsbezugs. Maßstab Goethes war die Objektivität, wie sie die griechische Antike durch ihre künstlerischen Werke vorgegeben hat.

Im Triumphzug sollte Winckelmann 1768 in Deutschland geehrt werden, doch er kehrte in Regensburg um und suchte über Wien, wo er von Maria Theresia empfangen wurde, nach Rom zurückzureisen. In Triest, wo er auf das Schiff nach Ancona wartete, wurde er am 8. Juni 1768 Opfer eines ruchlosen Raubmords.

In einer Art Dramolett hat sich der Wiener Bühnen- und Kostümbildner Thomas Oláh jüngst mit dem Leben und Sterben des Herrn Winckelmann beschäftigt und in sechs Monologen das Unergründliche an dem Mord beschworen (Edition Ausblick, Wien, Euro 24,-). Der französische Romancier Dominique Fernandez hingegen untersucht zuerst akribisch die überlieferten Prozessakten, um sich dann umso haltloser in Spekulationen über einen Racheakt im Homosexuellenmilieu zu verlieren: Winckelmanns Tod in Triest, erschienen bei Turia+Kant.

Damals jedenfalls empfing in ganz Europa "eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode", wie Thomas Mann es in anderem Zusammenhang geschrieben hat. Winckelmann selbst hatte voll berechtigtem Stolz von sich vermeldet: "Denn vielleicht gehet ein Jahrhundert vorbey, ehe es einem Deutschen gelinget, mir auf dem Wege, welchen ich ergriffen, nachzugehen, und welcher das Herz auf dem Flecke hat, wo es mir sitzet." (Oliver vom Hove, Album, 9.12.2017)