Rund um das Stubaitaler Skiinternat Neustift verdichten sich die Hinweise auf sexuelle Übergriffe an Schülern.

Foto: APA/EXPA/JAKOB GRUBER

Land, Ministerium und Staatsanwaltschaft sichern Spuren.

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Bregenz/Innsbruck – Der frühere Heimleiter, dem ehemalige Schüler und Eltern Missbrauch vorwerfen, lebt in Vorarlberg. Er habe keine Lust, etwas zu seiner Zeit in der Skihauptschule Neustift zu sagen, reagiert P. auf den ersten Anruf des STANDARD. Beim zweiten Anruf ist der Pensionist etwas gesprächiger. Er sei mehr als verwundert über die Anschuldigungen gegen ihn, denn die Vorwürfe stimmten allesamt nicht. "Das sind alles Vorverurteilungen", sagt P.

Wenn man ihm Nähe zu Schülern unterstelle, dann müsse man die damaligen räumlichen Verhältnisse im Neustifter Internat – "da könnte man ewig lang darüber reden" – kennen: ein altes Bauernhaus, ein einziges Bad mit einem Boiler für 15 Schüler. Die Heimleiterwohnung sei keine Wohnung, sondern nur ein Zimmer gewesen. "Da Nähe interpretieren? Das kann man machen oder auch nicht." Auf die Frage, ob er sich Schülern sexuell genähert habe, antwortet P: "Dazu sage ich nichts."

Vier Dementis

Als Heimleiter sei er 1976 von sich aus gegangen. "Weil ich nach sieben Jahren Arbeit rund um die Uhr genug hatte. Ich hab mir eine Wohnung in Zirl gekauft und bin dorthin gezogen." Vier Punkte hätte er zu den Schilderungen der Skirennläuferin Nicola Werdeniggs, die mit ihrer Aussage den Fall ins Rollen gebracht hat, klarzustellen: "Erstens: Es hat kein Aufnahmeritual gegeben. Zweitens: Ich habe Schülern nie Alkohol verabreicht. Drittens: Schüler waren nie in meinem Zimmer, um in der Gruppe zu onanieren. Viertens: Es hat keinen Zwang gegeben, weder zum Essen noch zu sonst etwas." Vollkommener Nonsens sei die Aussage, er habe im Biologieunterricht gesagt, Mädchen sollten öfter die Wäsche wechseln.

Weitere Recherchen des STANDARD widersprechen den Angaben von P. Ein ehemaliger Schüler aus Neustift bestätigt die bisherigen Schilderungen: "Dass sich der Heimleiter an Schülern vergeht, war allgemein bekannt. Es ist überhaupt nicht vorstellbar, dass die Lehrer das nicht wussten. Er wurde gedeckt. Er hat jede Situation genützt, um Kinder zu massieren und unpassend zu berühren. Beim ersten Mal war es schwierig zu deuten. Beim fünften, sechsten Mal konnte man es begreifen. Ich habe es immer vermieden, mit ihm alleine zu sein."

"Großes Provisorium"

Dazu die Sicht eines ehemaligen Lehrers: Er beschreibt die Zustände in Neustift in den 1970er-Jahren als "großes Provisorium". In der 1969 als Schulversuch gegründeten Einrichtung wurde "alles dem sportlichen Erfolg untergeordnet". Er widerspricht den Aussagen von P., wonach dieser die Heimleitung wegen eines Umzuges abgegeben habe: "Er war zu Schulbeginn 1976 plötzlich nicht mehr da." P. habe den Lehrern erklärt, sich mit dem Tiroler Skiverband (TSV) überworfen zu haben, weshalb er die Heimleitung abgegeben habe. Der TSV war nach Auskunft des Landes Tirol bis zum Schuljahr 1976/77 für das Internat zuständig. Der Verband selbst erklärte am Montag, dass man die damaligen Zuständigkeiten noch prüfen müsse.

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Dass es Missbrauchsvorwürfe gegen P. gegeben habe, sei ihm damals nicht bewusst gewesen, sagte der Lehrer. Erst nachdem P. 1979 endgültig die Schule verlassen habe, seien derartige Gerüchte aufgekommen. "Doch niemand fühlte sich zuständig, eine Anzeige zu erstatten." Rückblickend bedaure er, damals nicht genauer hingesehen zu haben: "Ich mache mir Gedanken, ob ich es nicht hätte sehen müssen."

Pädagoge suspendiert

Beim Land Tirol sucht man derzeit nach Hinweisen in den Akten, aus denen man damals schon Missstände hätte erkennen können. Und man wurde auch bereits fündig. Ein in den 1990er-Jahren an der Neustifter Skihauptschule im Schul- und Trainingsbereich tätiger Pädagoge wurde nach einer Prüfung vorläufig suspendiert, teilte das Land am Montagabend in einer Aussendung mit.

Dem Pädagogen wird vorgeworfen, anzügliche Gespräche mit SchülerInnen geführt zu haben und sie im Zuge von Massagen und Sicherungsarbeiten im Training und Sportunterricht "unpassend berührt" zu haben. "Wir unternehmen alle möglichen Anstrengungen, um erhobene Vorwürfe lückenlos aufzuklären und Konsequenzen zu ziehen", erklärte Bildungslandesrätin Beate Palfrader (ÖVP). Bis zur Klärung der strafrechtlichen und disziplinärrechtlichen Verantwortung bleibe der betroffenen Pädagoge vorläufig suspendiert.

Von Tirol nach Vorarlberg

P., der an der Ski-Hauptschule Neustift auch Lehrer war, unterrichtete später an einer Pädagogischen Akademie in Vorarlberg, wechselte damit also vom Landes- in den Bundesdienst.

Prinzipiell sei es nach Missbrauchsfällen bei Bundesschullehrern ausgeschlossen, dass sie in einem anderen Bundesland wieder als Lehrer aufgenommen werden, heißt es aus dem Ministerium. Bei Pflichtschullehrern entscheiden die Länder. Das Ministerium hatte bisher keinen Einblick, welche Pflichtschullehrerinnen und -lehrer in welchem Bundesland unterrichten. Mit der Einführung der Bildungsdirektionen ändere sich das.

Bei Nicola Werdenigg haben sich mittlerweile mehr als 40 Betroffene gemeldet. Fast die Hälfte der Fälle betrifft Neustift. (Steffen Arora und Jutta Berger, 4.12.2017)