Das prominent besetzte Podium.

Foto: Bert Eder

Selten hat man den großen Festsaal der Wiener Diplomatischen Akademie so voll gesehen: Mehr als 240 Besucher wollten sich die Debatte "Europa und der Islam" nicht entgehen lassen.

Eingeladen hatten die Weizsäcker-Gesellschaft Österreich und Deutschland. In seiner Einführung erinnerte "Furche"-Herausgeber Heinz Nussbaumer daran, dass die Wurzeln der Akademie in den habsburgischen "Sprachknabeninstituten" und der orientalischen Akademie liegen, die nach den Türkenkriegen eine Annäherung zwischen Orient und Okzident zu erreichen versuchten. Schon zu Zeiten der Monarchie wurden in Österreich Korane auf Arabisch gedruckt, im 19. Jahrhundert befand sich die größte Fez-Fabrik der Welt in Niederösterreich.

Erster Vortragender war der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk. Er definiert Europa nicht als Weltregion, sondern als "Aggregat aus gedemütigten Imperien vergangener Jahrhunderte". Der Islam ist für ihn ein "Zerfallsprodukt einer imperialen Struktur, die in den zwei Jahrhunderten nach dem Tod des Propheten entstand".

In einem religionsgeschichtlichen Exkurs erläuterte Sloterdijk, Götter seien aus dem Ahnenkult entstanden: Nicht "Gott ist tot", sondern "die Toten sind Gott".

Weniger Platz für Gott

Im Westen bleibe für Gott ein immer schmälerer Platz: Als Illustration nannte Sloterdijk die Kirchen in der New Yorker 5th Avenue, die zwischen modernen Hochhäusern fast verschwinden. Er betonte die Ungleichzeitigkeit der verschiedenen Entwicklungsphasen in Zivilisationen: So habe sich im Rahmen der "Mediterranisierung des Monotheismus" die Ansicht verbreitet "Gott gönnt mir ein Privatleben und macht von seiner Allwissenheit nicht immer Gebrauch". Im Gegensatz zur europäischen Aufklärung sieht er den "Maximalmonotheismus" in anderen Weltgegenden.

Sloterdijk zählte anthropologische Differenzen auf: So sei im Alten Europa zwischen "normalem Menschen" und "Gottmensch" unterschieden worden, ebenso zwischen "Weisem", der vom jüdischen Propheten abstamme, und dem Normalmenschen. Dazu kam im 14. Jahrhundert das "Genie" sowie der "Heilige". Im Islam hingegen gebe es weder Gottmenschen noch Heiligen, auch der Prophet Mohammed erfülle diese Ansprüche nicht. Moderne Sozialsysteme und Massenmedien hätten Funktionen übernommen, die früher Religion erfüllte.

Politisierte Religion

Der Philosoph verglich Napoleon, der den bereits abgeschafften Katholizismus wieder einführte (Frankreich als "älteste Tochter der Kirche"), und Saudi-Arabien, das Religion zu politischen Zwecken einsetze. Zum Abschluss erzählte er eine Anekdote: Gegen Ende seiner Herrschaft besann sich der irakische Diktator Saddam Hussein, der als atheistischer Sozialist begonnen hatte, auf die Religion. Er bestellte eine Krankenschwester und einen Kalligrafen zu sich. Erstere musste ihm jede Woche einen halben Liter Blut abzapfen, Letzterer damit damit den Koran abschreiben. Das Buch liegt heute noch verschlossen in der Bagdader Moschee. Für Sloterdijk ein Dilemma für irakische Muslime: Die Heilige Schrift wurde mit der "Tinte des Teufels" verfasst und sollte eigentlich vernichtet werden.

Der deutsch-syrische Islamologe Bassam Tibi berichtete, warum er auf die Aussage des damaligen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland, mit "Wer so etwas sagt, hat keine Ahnung von Deutschland oder vom Islam" reagierte: Es gibt seiner Ansicht nach nicht "den Islam", habe er bei seiner Forschung in 22 islamischen Ländern von Indonesien bis zum Senegal festgestellt.

Allein die sunnitische Glaubensrichtung habe vier Konfessionen, die schiitische mehr als vierzig: "Was ist islamisch? Das weiß Allah, wir wissen das nicht."

Aufklärung schlug kleine Wurzeln

Der Vorwurf, es habe keine Aufklärung im Islam, stimme nicht, es habe vom 9. bis ins 13. Jahrhundert solche Strömungen gegeben, die leider keine Wurzeln geschlagen hätten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts befände sich die islamische Zivilisation in einer Krise, die ihren Höhepunkt im Sechstagekrieg gefunden habe.

Tibi berichtete, er sei "als Antisemit nach Deutschland gekommen", aber seine Professoren Max Horkheimer und Theodor Adorno hätten ihm "den Kopf gewaschen". Auch heutzutage brächten viele Menschen Weltanschauungen mit, die mit europäischen Werten nicht vereinbar seien.

Als Abschluss seiner Rede berichtete Tibi, wie er von der damaligen österreichischen Innenministerin Liese Prokop zu einer Debatte mit österreichischen Islam-Vertretern eingeladen wurde. Als der frühere Vorsitzende der Islamischen Glaubensgemeinschaft erklärte, sein Verband sei zu dem Ergebnis gekommen, Tibis Modell eines europäischen Islams sei eindeutig abzulehnen, sei er aufgestanden und habe die Veranstaltung mit den Worten "Mit Idioten diskutiere ich nicht" verlassen.

STANDARD-Journalistin und Ex-Diplomatin Gudrun Harrer betonte, dass Kultur nicht identisch mit Religion sei: So sei sie arabischen Christen begegnet, die "kulturell Nahostler sind," in Ägypten träten manche koptische Christen wegen des liberalen Familienrechts zum Islam über.

Harrer erinnerte an das Foto, das den damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt mit Ibn Saud an Bord des Kriegsschiffes USS Quincy zeigt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Franklin D. Roosevelt mit Abdulaziz ibn Saud.
Foto: AP

Im Rahmen der Allianz gegen den Kommunismus seien die Saudis gegen die Annäherung des damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser an die Sowjetunion vorgegangen und hätten ihren politischen Islam exportiert, ohne dass jemand etwas dagegen gehabt hätte. Auch bei der islamischen Revolution im Iran sei zu beachten, dass diese nicht nur islamisch, sondern eben auch eine Revolution gewesen sei.

Pauschalisierung stelle Muslime in eine Ecke, sie reagierten darauf mit einem Verhalten, wie Kritiker es erwarteten.

Harrer stellte die Frage, ob es funktionieren könne, Muslime aufzufordern, ihre Religion zu verändern. Schließlich sei auch von Christen in Istanbul im 16. Jahrhundert nicht verlangt worden, sich für die Exzesse der Inquisition rechtzufertigen, auch vom "Mütterchen, das im Rahmen des Ablasshandels für die Vergebung ihrer Sünden bezahlte", habe niemand erwartet, ihr Verhalten kritisch zu hinterfragen.

Kritik übte Harrer an Vertretern, die öffentlich als Muslime aufgetreten sind und den Ernst der Lage nicht erkannt hätten.

Dass Islamvertreter nicht fordern, nach Irak und Syrien zu fahren, um Köpfe abzuschlagen, sei klar: aber auch Probleme wie die Sklaverei, die vor 20 Jahren irrelevant gewesen wären, müssten angesprochen werden. (bed, 1.12.2017)