Wien – Normalerweise ist es so, dass man als Kind nicht Flöte lernen will. Alle, die Flöte schon als Kind ... nicht so gut gefunden haben, sollen jetzt bitte aufzeigen. Eben, sag ich doch. Dass man vor dem Spielen idealerweise und, jetzt nicht näher erläutert, auch noch extra die Zähne putzen soll, geschenkt. Der Klang allein ist schon schlimm genug.

Eine grundsolide traumatische Flötenausbildung an der örtlichen Musikschule bekommt man von den Eltern verordnet, wenn diese es sich zum Beispiel nicht antun wollen, dass es einige Monate lang erbärmlich im Haushalt kratzt. Bis der Nachwuchs endlich einen vernünftigen Ton aus der gottverdammten Geige herausbringt, ist die Liebe zur Musik oft schon außerhalb und innerhalb des Kinderzimmers erloschen.

Blockflötenalarm bei Liedern über "sexuelle DNA" und Liebe in der Zeit von Google: Björk gibt sich auch 2017 gewohnt ... interessant.
Foto: One Little Indian

Man hat auch schon gehört, dass Eltern ökonomisch dazu gezwungen sind, dem Kind eine E-Gitarre, ein Klavier oder einen Laptop und zwei DJ-Laufwerke zu verweigern. Die Zeiten waren immer schon nicht ganz gut. Neben Synchrontanzkurs und Vollplaybackschulung für eine Popkarriere kommt also die Blockflöte zumindest finanziell noch am billigsten, wenn das Kind musikalisch kreativ werden soll.

Auch Björk hat in ihrer Kindheit eine Ausbildung in Eins Zwei Polizei und Tatütata, die Feuerwehr ist da genossen. Allerdings ist die isländische Avantgardepopkünstlerin auch stetig auf der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, psychologischen Ersatzhandlungen, Projektionen und überhaupt der Verarbeitung früh prägender Traumata, die in jeweils neuen saisonalen Stilen, Images und Tollheiten verdichtet werden.

Die gute alte Mutter Natur

David Bowie hat das so betrieben, dass man sich das gern anhört. Madonna gibt es als Popdiva aus dem Ramschladen grundsätzlich drei, vier Jahre später billiger als Vorreiterin Björk. Björk selbst hat sich die letzten Jahre auf ihren Alben zunehmend bemüht, mehr Björk zu sein, als man es sich als Konsument zumuten will.

Zuletzt war man mit sperrigen Arbeiten wie ihrem "Scheidungsalbum" Vulnicura von Künstlerstar Matthew Barney aus dem Jahr 2015 konfrontiert. Auf dem machten sich elektronische Häcksler, Pürierstäbe und Mischmaschinen dazu auf, der Künstlerin bei der Selbstzerfleischung tüchtig beizustehen. Zuvor wurde man auf dem ebenso ambitionierten, einen massiven Hörwiderwillen auslösenden Mutter-Natur-, Umweltschutz-, App-Store- und Multimedia-Projekt Biophilia von 2011 (das teilweise auf einem iPad komponiert wurde, was man nicht machen sollte) mit quälend-originellen Applikationen gequält.

Björk

So konnte man auf künstlich geschaffenen menschlichen Viren etwa Trommel spielen oder auf den als Akkordeontasten angelegten geologischen Erdschichten Kinderliedmelodien erarbeiten. Die Songs von Björk erübrigten sich somit selbst. Operation gelungen, Patient überflüssig.

2017 simulieren junge Menschen aber ohnehin nicht mehr auf dem Handy mit um die Sonne kreisenden Planeten ein Streichorchester auf Björks alter Solstice-App. Was soll ein "Björk" überhaupt sein? Ah, jemand aus der Zeit, als die Eltern noch auf Konzerte gingen! Wenn schon, dann posten die jungen Lauser heute allerhöchstens das Albumcover zu Björks neuem, zehnten Studioalbum Utopia auf Instagram.

Jetzt also Björk mit Flöte. Utopia hat neben einem auf das Nervenkostüm der Hörerschaft erst einmal pfeifenden, aus zwölf Frauen bestehenden isländischen Flötenorchester auf dem Albumcover auch eine Björk zu bieten, auf deren Stirn eine Vulva aus Plastik klebt. Am Hals kuschelt ein Alien-Fötus, in der Hand hält sie, ja was, eine Flöte.

Flöte, Flöte, ah, Panflöte! Pan, der Gott des Waldes und der Natur. Das soll uns etwas sagen. Es geht auf Utopia um alles, also das Ganze. Utopia handelt von der Natur, dem Körper als Altar des Lebens. Ganz wichtig im Gegensatz zu unserer lustfeindlichen christlichen Prägung: die Vereinigung von Körperlichkeit und Spiritualität. Liebe ist die größte Kraft, die alles schafft!

Björk

Utopia berichtet davon, dass Björk nach Jahren – gewohnt mäandernd und die Melodien in einem Raum-Zeit-Kontinuum ihrer Wahl zerdehnend und die Harmonien wie ein Schnitzel klopfend – endlich wieder Froh zu sein, bedarf es wenig singen kann.

Unterstützt wird sie dabei so wie schon auf Vulnicura vom venezolanischen Produzenten Arca. Der legte heuer mit der selbstbetitelten Arbeit Arca schon eines der zentralen musikalischen Statements des Jahres vor. Nun bereitet er mit zerrissenen, gleißenden und dunkel dräuenden Sounds, die eben auch an einen zischenden, brummenden, raschelnden und zwitschernden Soundtrack aus Wald und Wiese und Flora und Fauna erinnern, den Boden für Björks Naturkundeunterricht. In Body Memory singt sie von "sexueller DNA", in einem anderen Song von "Google Love".

"My healed chest wound transformed into a gate / Where I receive love from / Where I give love from." Alles wird wieder gut. Und der Orgasmus ganz gewaltig. (Christian Schachinger, 30.11.2017)