Ja eh, es gibt weit unangenehmere Aufgaben als jene, die mich gemeinsam mit dem Fotografen Stefan Diesner (hier im Bild) vergangene Woche nach Schladming brachte: Die Skisaison steht ante portas. Schladming begeht den Saisonauftakt dieses Wochenende und mit fettem Rambazamba. Und auch wenn ich in meinem "echten" Job nur am Rande mit dem eigentlichen Skifahren zu tun habe: Die Gelegenheit, bei Kaiserwetter und mit Blick aufs Dachsteinmassiv dienstlich ein oder zwei Tage Schnee zu schnuppern, würden Sie sich – vorausgesetzt Sie sind passionierter Hangberutscher – wohl auch nicht entgehen lassen.

Foto: Thomas Rottenberg

Was genau mich nach Schladming brachte? Ich betreute eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten, denen ein Blick hinter die Kulissen des Winters versprochen worden war. Weil Skifahren ja spätestens seit den 1980er-Jahren ein bisserl viel komplexer funktioniert, als es vor Ort für zahlende Gäste den Anschein hat: Frau Holle war gestern. Eher vorgestern. Heute ist "Winter" ein hochkomplexer und hochtechnologischer Auftrag an echte Spezialisten. Ein Bereich, in dem extrem viel Man- (und immer mehr Woman-)Power, Hard- und Software, Technik und Energie eingesetzt wird. Ein Feld, das politisch, ökologisch und ökonomisch hochemotional besetzt ist …

Foto: Thomas Rottenberg

… und in dem es keine endgültige, allein seligmachende Wahrheit gibt: Klimawandel, Ressourcenschonung und ökologische Fußabdrücke prügeln sich mit volkswirtschaftlichen und touristischen Faktoren, nationalem und sportlichem Selbstverständnis, Fragen nach der Leistbarkeit für Normalverdiener, der Demokratisierung oder Gentrifizierung von Urlaub, Raum und Landschaft sowie nach dem Sinn oder Unsinn des nationalen Beharrens auf einer touristischen Leitaktivität, der sich von etlichen Seiten immer mehr Konkurrenz und Hürden in den Weg werfen. Einem Leitsport, ohne den aber ganze Alpentäler binnen weniger Jahre entvölkert wären.

Ganz abgesehen von einem zentralen Punkt, der in der Wintersportdiskussion gern ausgeklammert wird: dem Spaß, der Skifahren vielen Menschen macht.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber: Ja, dieser Themenkomplex ist für eine Laufkolumne ein bisserl off topic. Zumindest auf den ersten Blick. Schließlich ist Laufen ziemlich das Gegenteil von teuer, elitär, energie- und ressourcenvernichtend. Laufen kann man zu jeder Jahreszeit, in jeder Klimazone (o. k.: fast), zu jeder Tageszeit und in jedem Setting. In oder vor einer urbanen Kulisse ebenso wie im alpinen Rahmen. Sogar im Dirndl.

Und das Dachsteinmassiv (oder jede andere pittoresk-dramatisch Gipfellinie) macht sich als Hintergrund beim Laufen vermutlich ebenso gut wie beim Ski- oder Snowboardfahren. Auch wenn das Licht beim ersten Bild dieser Geschichte naturgemäß besser war, als in dieser Aufnahme vom gleichen Tag: Laufen kann ich nur vor oder nach der Arbeit – und wenn man im Winter gegen 16.30 Uhr durch die Gegend rennt, stoßen Optik und Sensoren der Gopro an ihre Grenzen.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber laufen kann man trotzdem. Auch bei schlechtem Licht. Und auch wenn in Schladming gerade alles aufs Skifahren schaut und viele der alpinen Wanderwege schon zu Pisten, Ziehwegen oder Loipen mutiert sind (oder es demnächst werden), ist es keine Hexerei, in der WM- und Paralympic-Region schöne und fein zu laufende Routen zu finden.

Foto: Thomas Rottenberg

Wenn man sich so wie ich hier nicht auskennt, kann man quer durch die Stadt und dann einfach die Enns entlang laufen. Dazu später mehr. Oder einen Ski-Info-Slalom machen zu den großen Regionswandertafeln, kurz überschlagen, wie viel Zeit und Licht heute noch übrig sind, bedenken, wie sicher man sich auf glatten Wegen bei diffusem Licht fühlt – und dann mit einem Plan im Kopf losrennen.

Foto: Thomas Rottenberg

Oder es so machen wie ich: Den Timer auf eine Stunde einstellen – und einfach loslaufen. Solange man sich nicht im hochalpinen Bereich und an den Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit bewegt, kann da in einer für Normaltouristen dermaßen gut erschlossenen Region wie Schladming eigentlich relativ wenig passieren.

Mich verschlug es nach einer kleinen Stadtrunde auf den "Winterwanderweg" Richtung Untertal-Rohrmoos: ein netter Spazierweg durch eine schöne Klamm. Nicht steil, aber auch nicht ganz flach. Mit schroffen Felsen und dunklen Wäldern und, weil es ja immer den Fluss entlang geht, malerisch vom Rauschen des Wildbaches untermalt.

Foto: Thomas Rottenberg

Für einen Städter also ein perfekter Lauftapetenwechsel. Erst recht, wenn der sich nach seinem ersten Skitag und dem Dauertrubel des Gruppenbespaßens nach ein paar Augenblicken allein und ohne Remmidemmi sehnt: Der Winterwanderweg mag tagsüber stark frequentiert und abends – wenn, wie es am Weg geschrieben steht, die "Klammbeleuchtung" dann bis 24 Uhr eingeschalten ist – ein beliebtes romantisches Wegerl sein. Doch in der Übergangszeit zwischen Spätnachmittag und Dämmerung, wenn die Laternen noch nicht an sind, aber die Sonne nicht mehr scheint, ist man hier so gut wie allein: genau das, was ich brauchte.

Foto: Thomas Rottenberg

Lang ist die Klamm nicht. Und auch nicht schwierig zu laufen: Ein paar Schnee- und Eisglatzen kündigten den nahenden Winter an. Und am oberen Ende stößt man auf ein Ensemble, das ich eher im Salzkammergut erwartet hätte – und das sich dort vermutlich längst in ein für Normalsterbliche unerschwingliches Sommerresidenzerl verwandelt hätte. Hier aber schien das Haus ein bisserl verwahrlost – wenn auch nicht ganz verlassen: Dort, wo der Teilzeit-Salzkammergut-Residenzler seinen Sommersalon im Wintergarten einrichtet, wird hier eben Holz gelagert und gehackt. Der Wiener auf Landausflug muss ja nicht alles verstehen, was den Locals logisch und schlüssig scheint.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Weg zurück, sagte mir eine ältere Dame an der Bushaltestelle ebendort, sei "gaunz oafoch": die Bundesstraße rauf und hinter der Kurve über ein Feld. Da käme irgendwann ein Waldweg – und der brächte mich zurück Richtung Schladming.

Normalerweise würde ich so einem Rat blind folgen – und hoffen, mich auch ein bisserl zu verlaufen. Normalerweise. Aber: Ohne Ortskenntnis, ohne Regenjacke bei leichtem, hin und wieder gefrierendem Nieseln, schwindendem Licht, eingeschränktem Zeitbudget und lediglich zwei dünnen Leiberlschichten ist das, was sonst Spaß verspricht, eben ein klassisches No-Go. Schweren Herzens folgte ich den Stimmen von Vernunft und Pflichtbewusstsein und lief den Weg, den ich gekommen war, zurück. Mit Gründen.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn das Abendprogramm meiner Gruppe lautete "rustikaler Hüttenabend". Tags darauf stand tagsüber Skifahren und nachmittags und abends dann wieder der Blick hinter die Kulissen auf dem Programm: Pistenwalzen fahren erst dann, wenn die Skitouristen vom Berg runter sind.

Nicht nur aus Gründen der Sicherheit: Wenn Touristen "live" mitbekämen, wie viel Arbeit zu welchen Zeiten hinter ihrem Urlaubsvergnügen steckt, würde zweierlei passieren. Der Nimbus vom schwerelosen "Naturerlebnis" Skifahren würde zerstört. Und: Die Liftkartenpreise wären zwar immer noch exorbitant teuer – aber die Preisgestaltung erschiene Normalverdienern nicht mehr ganz so unverschämt-unnachvollziehbar. Doch während Ersteres nicht sein darf, ist Letzteres irrelevant: Wer wirklich Skifahren will, der geht und blendet tunlichst aus, was es kostet. Oder lässt es bleiben. Laufen ist in jedem Fall die kostengünstigere Option.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Wer tagsüber arbeiten muss, muss für sein Hobby oder für das, was nicht jeder sehen soll, in die Randzeiten ausweichen. Bei den Schneemachern und -schiebern kommt noch der Sicherheitsaspekt dazu. Doch während das Arbeiten in die Nacht hinein für die meisten Leute lediglich wurscht bis lästig ist, ist das Loslaufen in aller Herrgottsfrüh für viele eine echte Challenge. Ganz besonders im Winter: Um sich bei Kälte, Dunkelheit, Wind und Schneefall aus dem Bett und dem Haus zu bewegen, braucht man schon eine ganz eigene Motivation.

Foto: Thomas Rottenberg

Manche Zeitgenossen nennen das aber bei anderen Namen – und die sind weit weniger positiv konnotiert und besetzt.

Wenn ich wie an diesem Morgen frierend, unausgeschlafen und ohne Kaffee aus dem Hotel torkle, neige ich dazu, ihnen zuzustimmen. Wieso ich trotzdem losrenne? Keine Ahnung: Um darüber nachzudenken, ist es eindeutig zu kalt und zu früh – ich brauche gerade alle meine Energie für etwas anderes: fürs Laufen.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Schöne an diesen Morgenläufen hinaus ins Schwarze ist dann immer der Moment, in dem man die Stirnlampe wegpacken und zusehen kann, wie das Licht sich langsam, aber unaufhaltsam seinen Weg durch die schwarze Luft bahnt. Fahl und farblos. Schwach und schüchtern. Zaghaft. Aber eben doch.

Dass die Kamera da nicht mitkann? Egal: Wenn Sie sehen und spüren wollen, was diese Läufe im und durchs Zwielicht können, müssen Sie es ohnehin selbst probieren. Die Farben sind da dann Nebensache.

Foto: Thomas Rottenberg

Mein Schladminger Morgenlauf führte mich in die Gegenrichtung des Spätnachmittagslaufes zwei Tage zuvor: die Enns entlang, den Fluss hinunter. Ich habe diese Runde nicht erfunden – ganz im Gegenteil: "Klassische Laufrunde" steht alle paar Hundert Meter auf den Schildern, die einen ziemlich deppensicher die Strecke entlangführen. Leicht zu laufen – und das zu jeder Jahres- und Tageszeit.

Foto: Thomas Rottenberg

Tagsüber trifft man hier ständig Menschen. In der Früh aber ist man allein. Oder zumindest beinahe: Ich war etwa eine Stunde unterwegs – und traf lediglich einen anderen Läufer. Und eine Läuferin. Ihr Hund und ich schlossen sofort Freundschaft – aber um einander mehr als einen "Guten Morgen" zu wünschen, waren sowohl sie als auch ich noch zu verschlafen: Laufen aber ging. Sehr gut sogar.

Foto: Thomas Rottenberg

Derartige Läufe sind keine Heldentaten. Sie sind weder lang noch schnell noch spektakulär. Sie sind trotzdem wichtig. Sportlich sowieso. Aber auch, weil sie helfen, den Kopf freizukriegen und Perspektiven und Prioritäten zu schlichten. Weil sie helfen zu verstehen, was einem wichtig ist und was zählt. Und dazu beitragen zu kapieren, dass es kein Monopol auf Wahrheit gibt: Nach dem Lauf saß ich zufrieden beim Frühstück. Einer "meiner" Journalisten wankte schlaftrunken herein und fragte, ob ich von dem Irren gehört hätte, der Stunden zuvor mit einer Stirnlampe in Nacht, Wind und Schneegestöber hinausgerannt sei. Ich grinste und sagte, dass das wohl ich gewesen sein dürfte. Dem Kollegen fiel fast die Semmel aus der Hand: "Wie krank muss man sein, um so was zu tun?"

Ziemlich. Oder gar nicht: Beide Meinungen sind zulässig, gültig und auf ihre Art richtig. Das ist gut so. Denn auch wenn das in der Sache nichts mit Debatten um Kunstschnee, Skitourismus, Alpenkitsch und das Spannungsfeld Volkswirtschaft und Klimawandel, Ökologie und Ökonomie zu tun hat, hilft diese kleine Erkenntnis eines zu akzeptieren: dass es oft mehr als eine einzige Wahrheit gibt. (Thomas Rottenberg, 28.11.2017)


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