Grundsätzlich sehe ich einen Generationenwechsel, der mich positiv stimmt", sagt Angela McRobbie. Junge Frauen seien politisch engagiert und bereit dazu, ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen.

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In der Serie "Benefits Street" auf dem britischen Sender "Channel 4" werden SozialhilfeempfängerInnen porträtiert.

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STANDARD: In Ihrem Vortrag an der Universität Wien widmeten Sie sich dem "weiblichen Versagen": Armut und Benachteiligung würden in der neoliberalen Populärkultur als "female failure" inszeniert, so Ihre These. Wer sind diese Frauen?

McRobbie: In meinem 2008 erschienenen Buch "The Aftermath of Feminism" habe ich mich mit den "Top Girls" – so der Titel der deutschen Übersetzung – auseinandergesetzt: jungen, ambitionierten Frauen, die all ihre Ziele erreichen und dazu keine feministischen Kämpfe mehr austragen müssen. So lautet zumindest die Erzählung, die ich als neoliberalen Postfeminismus kritisiert habe. In den vergangenen Jahren habe ich mich darauf konzentriert, welche weiteren Effekte dieser Diskurs hat. Was ist mit den Frauen, die nicht einmal die Chance haben, die Karriereleiter hochzuklettern, die von dem neuen Erfolgsversprechen ausgeschlossen bleiben?

In meiner aktuellen Arbeit widme ich mich deshalb dem weiblichen Scheitern aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Die Losung "Du kannst alles erreichen" hat eine große Angst vor dem Versagen und neue Formen der Selbstdisziplinierung erzeugt, die Vision des perfekten Lebens verdeckt letztendlich eine zunehmende Prekarisierung. Mich als Kulturwissenschafterin interessieren Medienbilder, Formen des Bloßstellens von Sozialhilfeempfängerinnen, von Arbeitslosen oder jungen Müttern, die vor zehn, 15 Jahren so noch nicht existierten.

STANDARD: Denken Sie dabei an Boulevardmedien und Reality-TV-Shows, in denen arbeitslose Menschen scheinbar den ganzen Tag auf der Couch verbringen?

McRobbie: Ja, unter anderem, aber in Großbritannien sind solche Formate mittlerweile auch zur Primetime auf respektablen Sendern wie Channel 4 und BBC zu sehen. Das sind Shows oder Dokumentationen, in denen SozialhilfeempfängerInnen abwertend dargestellt werden und ihnen mehr oder weniger die Schuld für ihre schwierige Lebenssituation zugeschoben wird. Oft stehen Frauen aus der Arbeiterklasse im Zentrum dieser Formate.

Eines der erfolgreichsten der letzten Jahre war "Benefits Street" auf Channel 4, aber es hat sich darüber hinaus ein ganzes Genre des "Benefits TV" entwickelt – diese Sendungen sind voyeuristisch und stigmatisierend. Und in gewisser Weise fungieren sie als moralische Barometer dafür, was in einer Gesellschaft als akzeptabel gilt. Meine These lautet, dass sich diese Grenze in den vergangenen Jahren deutlich verschoben hat. Die frühere Unterscheidung zwischen "selbstverschuldeter" und "unverschuldeter" Armut existiert heute nicht mehr, der Ton auf Social-Media-Plattformen wird aggressiver, medial werden Frauen vorgeführt, die angeblich zu Unrecht Sozialleistungen beziehen, zu viele Kinder haben oder sich "schamlos" verhalten.

STANDARD: Im deutschsprachigen Raum fallen entsprechende Formate vergleichsweise harmlos aus, aber auch in Österreich und Deutschland sind Sendungen wie "Frauentausch" und "Teenager werden Mütter", in denen das scheinbar verantwortungslose Verhalten von Frauen aus der Arbeiterklasse vorgeführt wird, höchst erfolgreich. Was macht diese so attraktiv für ein breites Publikum?

McRobbie: Das ist eine gute Frage, denn es gibt dazu zu wenig Forschung. Einige dieser britischen Sendungen haben außergewöhnlich hohe Quoten, es existiert also ein Markt, ein Publikum dafür. Gesellschaftliche Debatten konzentrieren sich aber eher auf die DarstellerInnen als auf die Motive der SeherInnen. Es bräuchte auch Forschung zu den Politiken hinter den Kulissen: Wie kommt es in einem Medienbetrieb zu der Entscheidung, ein bestimmtes Format so zu inszenieren? Klar ist, dass gegenwärtig Reality-TV-Shows darauf angelegt sind, mit exzentrischen Charakteren auch über die konkrete Sendung hinaus ein Eigenleben zu entwickeln – das trägt zur enormen Popularität bei.

STANDARD: Welchen Zweck erfüllt das öffentliche Bloßstellen von Armutsbetroffenen, von Menschen, die Sozialhilfe bekommen?

McRobbie: In Großbritannien erleben wir eine zunehmende Aushöhlung des Sozialstaats. Das politische Ziel ist, Menschen raus aus Sozialhilfesystemen und in die Erwerbsarbeit zu bringen. Ein Mittel auf diesem Weg ist das öffentliche Bloßstellen von Menschen, die Sozialleistungen beziehen. Dieser Diskurs bringt nicht nur Angehörige der Mittelklasse dazu, auf arme Menschen herabzusehen und Sozialmissbrauch zu beklagen, er erzeugt auch Konflikte innerhalb eines Milieus und treibt eine Entsolidarisierung voran. Jeder steht mit jedem in Konkurrenz. Die Frau im staatlichen Workfare-Programm, die für eine geringe Bezahlung in Teilzeit arbeitet, stellt sich gegen ihre Nachbarin, die ihr Überleben mit Sozialhilfe bestreitet.

STANDARD: Nach dem Wahlsieg von Donald Trump haben Sie einen Kommentar über neue, aggressive Formen von Antifeminismus veröffentlicht. Rechte Gruppen quer durch Europa greifen aber auch feministische Ideen auf und geben vor, für Frauenrechte zu kämpfen – darunter verstehen sie auch das Recht, ausschließlich Hausfrau und Mutter zu sein.

McRobbie: Rechte und Konservative, insbesondere Neoliberale haben sich längst feministische Inhalte angeeignet und umgedeutet – vor allem wenn es um wirtschaftlichen Erfolg geht. Ivanka Trump ist eine Person, die dieses Konzept sehr anschaulich verkörpert. Aber auch wenn rechtsextreme Gruppen, die Frauenrechte für ihre rassistischen Ideen instrumentalisieren, oder etwa sehr konservative ChristInnen in den USA Frauen wieder als Ehefrau und Mutter in die Privatsphäre zurückdrängen möchten, denke ich nicht, dass sich diese Ideologie durchsetzen wird. Denn die neoliberale Logik braucht Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

STANDARD: In demselben Text haben Sie formuliert, es brauche dringend neue Formen der Solidarisierung von Frauen über die Grenzen von Klasse und Ethnizität hinweg. Sehen Sie solche Bündnisse aktuell?

McRobbie: Grundsätzlich sehe ich einen Generationenwechsel, der mich positiv stimmt: Junge Frauen sind vielfach politisch engagiert, sie gründen Initiativen, die MigrantInnen unterstützen, sie sind sehr viel offener und bereit dazu, ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen – das zeigt auch die Kampagne #MeToo gerade. Trotzdem bleibe ich skeptisch, wenn es um Aktionsformen auf Facebook und Twitter geht. Natürlich sind sie heute aus sozialen Bewegungen nicht mehr wegzudenken, aber es braucht auch dringend andere Formen, politisches Tun im Alltag.

Ich erforsche, wie Medien und Populärkultur Individualisierung vorantreiben und Kollektivierung verhindern. Meinen StudentInnen sage ich gerne, dass es auch Menschen braucht, die Bürokratie, den Sozialstaat, staatliche Organisationen verteidigen – was erst einmal nicht besonders aufregend klingt. An der Universität, an der ich lehre, wollen viele zum Beispiel DokumentarfilmerInnen werden – und ich entgegne ihnen: Wenn man mit benachteiligten Jugendlichen arbeitet, kann man auch tolle Medienarbeit machen. Es muss nicht immer die Arbeit im Scheinwerferlicht sein.

STANDARD: Die US-amerikanische Autorin Barbara Ehrenreich kritisierte in einem Kommentar, dass #MeToo blinde Flecken aufweise: Schauspielerinnen stünden im Zentrum der Debatte, während Niedriglohnarbeiterinnen ausgeblendet blieben.

McRobbie: Ja, und das fasst das Problem unserer Medienkultur, die ganz auf individuellen Erfolg ausgerichtet ist, doch ganz gut zusammen. Der institutionalisierte Sexismus und der Rassismus bleiben unsichtbar. Gerade für diese Kämpfe braucht es feministische Bewegungen. (Brigitte Theißl, 24.11.2017)