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Sexuelle Belästigung von Frauen ist in unserer Kultur (noch) sehr verwurzelt.

Foto: REUTERS/Lucy Nicholson

Warum hat es so lange gedauert, bis diese Frauen sich gemeldet haben? War da vielleicht in Wirklichkeit nichts Nennenswertes oder ist das nur die Rache abgewählter Politikerinnen oder frustrierter Feministinnen, dass gerade jetzt sexuelle Belästigung zum Thema gemacht wird? Wann beginnt denn sexuelle Belästigung? Man wird ja wohl noch ein bisschen flirten dürfen?

In sozialen Medien, aber auch in Qualitätsmedien werden derzeit solche und ähnliche Fragen aufgeworfen und großteils konkrete Antworten darauf vermieden, vielleicht aus dem Gefühl heraus, dass sexuelle Belästigung schon ein bisschen sein darf, irgendwie zum Spiel der Geschlechter gehört und maximal ein Kavaliersdelikt darstellt.

Aufarbeitung, die Jahrzehnte dauert

Warum hat es Jahrzehnte gedauert, bis Menschen, die als Kinder misshandelt worden waren, an die Öffentlichkeit gingen? Weil es lange Zeit einen gesellschaftlichen Konsens gab, dass eine gesunde Watschen schon in Ordnung sei, dass Kinder, schwierige Kinder, eine harte Hand bräuchten und Bestrafungen sie schon auf die richtige Bahn bringen würden. Opfer mussten fürchten, gar nicht erst ernst genommen zu werden, es gab kein Bewusstsein, dass die Behandlung der Kinder nicht in Ordnung – allenfalls manchmal etwas überzogen – war.

Unsere Gesellschaft war aber diesbezüglich lernfähig. Kirchliche und staatliche Heime haben begonnen, ihre Geschichte aufzuarbeiten, wir tolerieren heute nicht mehr, dass unsere Kinder misshandelt werden, nicht in Heimen und nicht zu Hause. Dieses Klima braucht es, damit Opfer nicht ein zweites Mal traumatisiert werden, wenn sie die Misshandlungen, die ihnen widerfahren sind, zur Anklage bringen.

Die Chance, zu lernen

Sexuelle Belästigung von Frauen ist in unserer Kultur (noch) sehr verwurzelt. Auch Frauen fragen, ob man denn überhaupt noch flirten dürfe, wenn gleich alles als sexuelle Belästigung aufgefasst werde – und viele Frauen haben genau deshalb lange nichts gesagt, um nicht ein zweites Mal Opfer zu werden: als Mimose oder Spaßverderberin hingestellt zu werden, die sich verfolgt fühlt, anstatt sich über ein bisschen Aufmerksamkeit zu freuen.

Aber sexuelle Belästigung ist nicht in Ordnung. Sie ist eine Form von Gewalt, und unsere Gesellschaft hat die Chance – und die Pflicht –, zu lernen und ähnlich wie bei der Kindesmisshandlung einen Wandel herbeizuführen: Was ist erlaubt und was nicht?

Sobald die Würde einer Person verletzt wird, sobald sexualisierende Bemerkungen oder Handlungen entwürdigend und beschämend sind, ist das kein Flirten, sondern sexuelle Belästigung. Und ja, es gibt auch eine angemessene erotische Annäherung, wobei die Grenze zur Belästigung üblicherweise von Männern und Frauen sehr ähnlich empfunden wird, wenn zum Beispiel das Prinzip der Gegenseitigkeit nicht gewahrt oder ein Nein nicht gehört wird. Wo nicht, wird es notwendig sein, diese Grenze zu schärfen, im Interesse beider Geschlechter.

Bessere Kommunikation

Wenn es unsere Kultur ernst meint mit der Gleichberechtigung, dann wird es hoffentlich bald ebenso viele Frauen wie Männer in wichtigen Positionen geben, und es sollte Konsens darüber herrschen, dass sexuelle Belästigung nicht zu tolerieren ist. Und nein, ich habe nicht die Befürchtung, dass es dann bald keine Kommunikation mehr zwischen Männern und Frauen gibt – ganz ehrlich, die Kommunikation zwischen den Geschlechtern wird besser, wenn Machtmissbrauch weiter eingedämmt wird und so auch keine sexuellen Belästigungen als eine Spielart des Machtmissbrauchs eingestreut und ausgehalten werden müssen.

Dieses Jahr wurde von der EU zum "Europäischen Aktionsjahr zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen" ausgerufen, noch bevor uns aus den USA die Nachricht von #MeToo erreichte. Die Chance auf einen Kulturwandel im Umgang der Geschlechter miteinander ist da, nehmen wir sie wahr. (Edith Schratzberger-Vécsei, 15.11.2017)