Nick Gevers (Hrsg.): "Extrasolar"
Gebundene Ausgabe, 313 Seiten, PS Publishing 2017, Sprache: Englisch
"Truth is stranger than fiction", lautet ein englisches Sprichwort. Das gilt auch für Exoplaneten, von denen wir seit Anfang der 90er ein paar tausend entdeckt haben und zu einer erstaunlichen Erkenntnis geführt worden sind: Ein paar kleine Gesteinsplaneten innen, ein paar Gasriesen außen – das ist keineswegs das einzige Modell, nach dem ein Sternsystem angeordnet sein kann. Möglicherweise ist es sogar nicht einmal besonders typisch, immerhin gibt es für einige Planetentypen, die da draußen recht weit verbreitet scheinen, in unserem Sonnensystem gar keine Entsprechung: etwa übergroße Supererden oder Heiße Jupiter.
Dass die Science Fiction als die Ideen-Literatur schlechthin der Realität hinterherhinkt, wollte der langjährige SF-Herausgeber Nick Gevers nicht länger hinnehmen. Also rief er für sein Anthologie-Projekt "Extrasolar" Autoren dazu auf, the extraordinary talent Reality has for defying our expectations gerecht zu werden und Erzählungen abzuliefern, in denen exotische Welten den Schauplatz bilden. 14 durch die Bank hochrangige Vertreter des Genres sind dem Ruf gefolgt und schildern einige tatsächlich sehr fremdartige Umgebungen – auch wenn der Effekt auf sehr unterschiedliche und nicht immer der Prämisse der Anthologie entsprechende Weise erzielt wird.
Von Hard SF ...
Am stärksten sind Gevers' Grundidee – nicht ganz überraschend – die Vertreter der Hard SF gefolgt. Genreveteran Gregory Benford etwa, selbst ein Astrophysiker, stellt eine Bibliothekarin des 25. Jahrhunderts in den Mittelpunkt seiner Erzählung "Shadows of Eternity". Die soll eigentlich alte SETI-Signale entschlüsseln, surft aber am liebsten virtuell durch die Daten, die Sonnensegel-Sonden über fremde Welten gesammelt haben. Das ergibt ein wunderbares physikalisch-poetisches Panorama, und so ganz nebenbei kommt man dabei einem dunklen kosmischen Geheimnis auf die Spur und löst das Fermi-Paradoxon.
Die Sonde in Ian MacLeods kurzem "The Fall of the House of Kepler" würde sich freuen, wenn sie auch so ein begeistertes Publikum hätte. Doch sie kann ihr Wissen über die Wunder des Universums nur noch verzweifelt in die Leere hinausschreien, denn die Menschheit ist längst untergegangen. Bitter auch die Ironie in Paul McAuleys "Life Signs". Astrobiologen wollen die Atmosphären von Exoplaneten auf Lebensspuren untersuchen, doch ihr Teleskop wird blind: Der Klimawandel hat den Himmel mit Wolken verhüllt – die "Lebensspur" der Menschheit ...
Nancy Kress schließlich verlegt aktuelle NASA- und ESA-Konzepte zur Suche nach Leben auf dem Saturnmond Enceladus in den interstellaren Raum. In "Canoe" wird der Eismond eines Gasriesen, der um zwei Braune Zwerge kreist, zum Ziel einer Expedition.
... über Aufweichungen der Grundidee ...
Bei einigen Autoren hat der gewählte Exoplanet nur die Funktion einer Bühne. In Aliette de Bodards "A Game of Three Generals" wird diese zum Gefängnis: Hier wird die Insassin einer Strafkolonie auf einer heißen Supererde mit einer grausamen Wahrheit konfrontiert. Alastair Reynolds lässt in "Holdfast" einen Menschen und den Angehörigen einer feindlichen Alienrasse in der Atmosphäre eines sogenannten Super-Jupiters aufeinandertreffen. Spannendes Detail: Nicht nur die Spezies der außerirdischen "maggots", sondern auch die menschliche Gesellschaft dieser Zukunft weist Züge eines Insektenstaats auf.
Noch einen Super-Jupiter finden wir in Matthew Hughes' "Thunderstone"; dieser hier erzeugt in seiner dichten Atmosphäre einzigartige Juwelen. Hughes kennen wir von seiner "Ten Thousand Worlds"-Reihe (siehe etwa "Majestrum"), zu der auch der Mini-Krimi "Thunderstone" gehört. Dieser Erzählzyklus ist als explizites Prequel zu Jack Vances "Dying Earth"-Reihe angelegt und ermöglicht stets aufs Neue faszinierendes Eintauchen in eine opulente Welt der fernen Zukunft, in der das Universum damit begonnen hat, von einem physikalischen auf ein magisches Betriebssystem umzuschalten.
Auch Robert Reed nutzt die Anthologie, um mit seinem Beitrag "The Residue of Fire" eine eigene Reihe zu bewerben. In dem Fall ist es die "Great Ship"-Saga, in der Menschen ein uraltes, gigantisches Raumschiff entdeckt haben, das unzählige exotische Habitate in sich trägt. Fraglos faszinierend, bleibt die Geschichte ohne Kontextkenntnisse aber leider weitgehend unverständlich. Eine weitere Erzählung, in der das Transportmittel wichtiger ist als das extrasolare Ziel, ist Kathleen Ann Goonans komplex gewobenes "The Tale of the Alcubierre Horse". Darin entführen hochbegabte Kinder ein Weltraumhabitat, während die erwachsene Hauptfigur Parallelen zu den Reisen ihrer polynesischen Ahnen erkennt.
... bis zu etwas ganz anderem
Mit der tragikomischen Liebesgeschichte "Arcturean Nocturne" von Jack McDevitt und Terry Dowlings "Come Home", in dem Menschen Traumbotschaften von einem Exoplaneten empfangen, gibt es zwei eher durchschnittliche Beiträge. Aus allen Rohren feuert dafür Paul di Filippo, der sich hier wieder genauso sprachverliebt zeigt wie in seiner legendären Storysammlung "Ribofunk". Seinen Anthologie-Beitrag "The Bartered Planet" hat er als Gesellschaftssatire angelegt: Gemäß den Bestimmungen eines Friedensvertrags muss der Exomond Malenka von seinem Planeten in die Umlaufbahn eines anderen verlegt werden. Und die gleichermaßen schmetterlingshafte wie snobistische Hipster-Bevölkerung Malenkas muss sich daran gewöhnen, künftig in einem äußerst pragmatischen und für sie furchtbar ungehobelten Kulturkreis zu leben.
Ein Fest für Fans von James Tiptree Jr. ist "The Planet Woman By M. V. Crawford" von Lavie Tidhar, ein wunderbares Stück SF-Metaliteratur. Tidhar schlüpft darin in die Rolle eines Herausgebers und präsentiert drei kurze Geschichten der fiktiven Autorin M. V. Crawford, in denen es ganz im Tiptree-Stil um Geschlechterkampf, die Seele der Welt, interplanetaren Sex (also zwischen Planeten, nicht Planetenbewohnern) und Menschen in der Rolle von Spermien geht. Das ist von Gevers' Ausgangsidee weit entfernt, aber eine der besten Tiptree-Hommagen, die ich je gelesen habe.
Die logische Umkehr
Wäre man streng, müsste man konstatieren, dass Nick Gevers als General seine schreibenden Truppen kaum unter Kontrolle bringen konnte. Nur in wenigen Erzählungen hier sind fremdartige Planeten die eigentlichen Stars; meist spielen sie nur eine Rolle am Rande. Was die Qualität der Beiträge anbelangt, ist "Extrasolar" aber eine klar überdurchschnittliche Anthologie. Schriftstellerische Freiheit zahlt sich eben aus.
Und mit Ian Watson kam auch einer auf die fast schon zwangsläufige Idee, den Spieß umzudrehen. In seiner humorvollen, streckenweise recht albernen "Journey to the Anomaly" bereist eine Abordnung Aliens ein Sternsystem, wie sie noch keines gesehen haben – nämlich unseres. Acht Planeten ziehen hier in fast perfekten Kreisen um ihren Stern, "so regelmäßig wie ein Uhrwerk". Das kann keine natürliche Anordnung sein, da müssen die Einheimischen doch mit irgendeiner Supertechnologie nachgeholfen haben ...
Abschließend noch ein Tipp. Da englischsprachige Bücher ein fixer Bestandteil der Rundschau sind und das stete Trommelfeuer den einen oder anderen Originalsprachskeptiker auf Dauer doch weichklopft: Wer genau jetzt vor dem Schritt "Ach, ich trau mich einfach mal auf Englisch, wird schon nicht so schwer sein" steht, sollte die Jungfernfahrt vielleicht nicht gerade mit diesem Titel antreten.