Was man als Kind in sich aufgesogen hat, wird man nur schwer wieder los. Die Landschaften, die Gerüche, die Familienstandbilder. Eingefrorene Bruchstücke von kindlichem Erleben: Das können schlimme Erlebnisse sein, wie das Brennen der gerade auftreffenden Handfläche eines Erziehungsberechtigten, aber Erziehungsüberforderten auf der eigenen Wange, das knallende Geräusch dazu, das sich zwischen den Ohren manifestiert.

Oder ein Bussi des vierjährigen Nachbarsjungen auf der Veranda einer heruntergekommenen Datscha mitten im russischen Nirgendwo, moosüberwucherte Stufen, schiefes Dach. Es ist heiß, die Insekten schwirren um den dort abgestellten Saftkrug, und die Gladiolen sind so riesig, dass man darunter Dinosaurier im Ururwald spielen kann.

Ein aufgeschlagenes Knie auf Eisenbahngleisen. Die Stachelbeerbaisertorte der Nachbarin, die Kruste kracht beim Anstechen, sie versenkt das machetenbreite Messer mit einigem Stolz und einem Schuss Mordlust in die weiße, in der Mitte ankaramellisierte Oberfläche als Miniarmageddon. Sie trägt eine Schürze mit traditionellen gestickten Hähnen darauf, das Tischtuch trägt dasselbe Muster.

Oder vernebelte Strände des finnischen Meerbusens, in dem im Winter durchaus noch Minireste der Eisberge vorbeitreiben konnten: stille Unendlichkeit in Grau und Weiß, durchbrochen von geisterhaften Möwenschreien und dem Knacken des Eises. Im Sommer war es immer noch zu kalt zum Baden – und natürlich badete man trotzdem, mit sowjetischer Eleganz, formatstarker Badekleidung, blau angelaufener Haut und hühnerhaft abstehenden Härchen. Von einem Rimini des Nordens wagte man dort jedenfalls damals wie heute nicht zu sprechen, obwohl St. Petersburg, damals Leningrad, immer noch das nördliche Venedig genannt wird.

Und jetzt? Um die Nostalghia auf die Schnelle zu stillen, breche ich genau heute nach Norderney auf. Hoffentlich finde ich ein paar Seerobben am Strand. Das würde mich an diese Badeszenen erinnern. (Julya Rabinowich, 10.11.2017)