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Am Tag der Ausrufung der Republik Deutschösterreich am 12. November 1918 versammelten sich rund 150.000 Menschen vor dem Parlament. Für diesen Tag war in Österreich Arbeitsruhe angeordnet.

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Die Herren trugen Hut, die Damen hatten sich feingemacht, der nasskalte Regen hielt sie nicht davon ab, sich in Feststimmung zum Parlamentsgebäude aufzumachen, um Zeugen der offiziellen Ausrufung der Republik zu werden. Um 15 Uhr am 12. November 1918 war es so weit: "Deutschösterreich" ward offiziell geboren. (Die "Republik Österreich" gab es erst mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain am 10. September 1919.) Etwa 150.000 Menschen waren in orchestrierten Märschen aus ganz Wien zusammengekommen, die provisorische Nationalversammlung hatte zuvor das "Gesetz über die Staats- und Regierungsform" beschlossen und damit den Grundstein für die Gründung der demokratischen Republik gelegt.

Draußen vor der Parlamentsrampe brodelte eine gefährliche Gefühlsmixtur, und so endete dieser Tag nicht so friedlich, wie er begonnen hatte, schildert der Historiker Manfried Rauchensteiner in seiner neuen Jahrhundertgeschichte mit dem Titel Unter Beobachtung. Österreich seit 1918 (Böhlau-Verlag 2017).

Zwei rote Fetzen im Wind

Denn als die rot-weiß-rote Fahne – statt der schwarz-gelben aus der Kaiserzeit – aufgezogen wurde, rissen Mitglieder der linksradikalen Roten Garde den weißen Streifen heraus und hissten die zwei roten Fetzen als Zeichen der beginnenden Revolution. Später, als Rotarmisten ins Parlament, das bis dahin das Reichsratsgebäude gewesen war, eindrangen, gab es sogar eine wilde Schießerei, zwei Menschen wurden im Tumult totgetrampelt.

Aber die demokratische Republik war in der Welt, und der 12. November 1918 gilt als ihr Geburtstag – wenngleich der eigentliche Akt der Staatsgründung inklusive der Bildung einer Staatsregierung mit dem Sozialdemokraten Karl Renner an der Spitze bereits am 30. Oktober 1918 durch die provisorische Nationalversammlung erfolgt war. Jenes Teilstück der Ringstraße, wo die Menschen die neue Republik bejubelt hatten – damals noch der "Franzensring" nach dem Kaiser – hieß dann übrigens zwischen 1919 und 1934 "Ring des 12. November".

Ein Kaiser zu viel

Am Tag davor hatte Kaiser Karl die Abdankungsurkunde unterzeichnet: "Ich verzichte auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften." Er residierte zwar nicht mehr in Schönbrunn, befand sich aber noch im Land, und zwar im Jagdschloss Eckartsau in Marchfeld – und war somit "ein Kaiser zu viel" (Rauchensteiner) in der im Werden begriffenen Republik. Oder auch: eine Verlegenheit inmitten der viel größeren historischen Verlegenheit. Denn, so sagt Historiker Rauchensteiner: Der geografisch und einflussmäßig gestutzte, unter der enormen Schuldenlast nach dem Ersten Weltkrieg ächzende Rest des Habsburgerreichs war vor allem eine "Verlegenheit" und habe erst spät einen Selbstbehauptungswillen entwickelt: "Die Verlegenheit blieb." – Und verhinderte nicht, dass das Land, die Republik, im Laufe des folgenden wechselvollen Jahrhunderts in die Rolle als "Stabilitätsfaktor" hineinwuchs.

Im "Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018", das unter der Schirmherrschaft von Altbundespräsident Heinz Fischer organisiert wird, ist nun eine Vielzahl an Veranstaltungen geplant, die nicht nur die Republiksgründung feiern, sondern auch an andere folgenreiche Ereignisse sowie an dunkle Flecken im Strom dieser Geschichte erinnern und ihrer gedenken (siehe Grafik links oben und Infokasten unten).

Was aber gibt es nach wechselhaften 100 Jahren eigentlich zu feiern? In welcher Verfasstheit ist die "Hundertjährige" – die Republik Österreich – heute?

Eine europäische Normaldemokratie

In guter, in stabiler, meint Politikwissenschafter Anton Pelinka: "Österreich ist eine europäische Normaldemokratie geworden, mit Fehlern und Vorteilen – und das ist auch gut so." Der 12. November 1918 sei im Zusammenhang mit der Republikswerdung zwar "ein wichtiger, aber auch zufälliger Tag". Die Voraussetzung dafür war die Kapitulation, der Zerfall der Monarchie, ein "weltpolitisches Ereignis, das von vielen Menschen als Niederlage empfunden wurde" – aber die damaligen Politiker realisierten "eine vernünftige Verlegenheitslösung", greift auch Politologe Pelinka zu diesem Wort und betont: "Der Anfang der Ersten Republik war von Vernunft geprägt." Der Anfang ...

Es hätte überhaupt alles anders kommen können – wie alles in der Geschichte. Denn weder Sozialdemokraten noch Christlichsoziale waren Republikaner. Sie wurden es. Persönlichkeiten wie Karl Renner und Ignaz Seipel verkörperten "den vernünftigen Beginn, das Scheitern und den erfolgreichen Wiederbeginn", sagt Pelinka. Oder anders gesagt: Man kann aus der Geschichte auch lernen.

Auch Rauchensteiner erklärt an der Person Renner, wie ein Politiker "geradezu prototypisch Lehren gezogen hat und in die einzigartige Lage kam, zweimal einen Übergang – 1918 und dann 1945 – politisch gestalten zu können, Recht einkehren zu lassen und ein Staatswesen vorauszudenken."

Frauenwahlrecht als echte Zäsur

Der erste Übergang war übrigens für die Frauen in Österreich eine wirkliche Zäsur, erinnert die Historikerin Eva Blimlinger: Das Frauenwahlrecht feiert nämlich auch am 12. November 1918 sein 100-jähriges Jubliäum – streng genommen, und das gelte auch für "100 Jahre Republik", die "ja kein Kontinuum, sondern ein Auf und Ab, immer wieder mit Knicks ist", müssten die sieben Jahre von 1938 bis 1945 abgezogen werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war man dann in vielem klüger. "In der Ersten Republik gab es Visionen und Utopien im Übermaß, aber jede hat die andere Seite ausgeschlossen", sagt Pelinka. Dass die Zweite Republik eine Erfolgsgeschichte wurde, liege auch daran, dass man nach Bürgerkrieg und NS-Zeit gelernt habe: "Demokratie heißt nicht, der Sieger bekommt alles, sondern man muss teilen." Jahrzehntelang manifestiert in den großen, lagerverbindenden Regierungskoalitionen, die an ihr Ende gekommen scheinen, und der Sozialpartnerschaft.

Jetzt beutelt's uns aber

Heute, im Jahr 99 nach der Proklamation der Republik, sieht Rauchensteiner die Staatsform "ungefährdet, aber: Österreich ist im Umbruch." Was nicht immer ein Drama sein muss, meint der Historiker: "Wir müssen nur aufpassen, dass wir einigermaßen synchron bleiben." Mit uns selbst. "Wir sind ein europäisches Land, wir haben bestimmte Grundwerte." Wenn wir die nicht aus den Augen verlieren, dann könne diese Gesellschaft auch einmal eine Phase hinnehmen, in der man das Gefühl habe: "Oh, jetzt beutelt's uns aber ordentlich."

Für solche Zeiten sind ab und zu Momente – oder auch einmal ein Gedenkjahr – wachsamer Selbstvergewisserung und Erinnerung durchaus hilfreich. Denn, wie der Historiker Rauchensteiner schreibt: "Es ist auch noch nichts abgeschlossen; es ist im Fluss. Im altbekannten Strom der Zeit." (Lisa Nimmervoll, 10.11.2017)