Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache bei der Präsentation ihrer Koalitionspläne.

Foto: Matthias Cremer

Vielleicht ist alles ganz einfach mit dem neuen Stil zu erklären: Endlich schickt sich eine Regierung an, die ewige Schönfärberei zu beenden. Schonungslos haben ÖVP und FPÖ bei einem Kassasturz nachrechnen lassen, was sie von der scheidenden großen Koalition erben werden – und so eine Lücke im Budget von vier Milliarden Euro entdeckt.

Diese Geschichte schmeichelt dem Image der künftigen türkis-blauen Koalition, birgt aber ein Glaubwürdigkeitsproblem. Denn Indizien legen eine andere Vermutung nahe: Die Regenten in spe haben das Loch im Staatshaushalt gehörig aufgeblasen.

Das beginnt bei der Rechnung, die Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache nach dem "Kassasturz" auftischten. Die beiden Parteichefs haben Äpfel mit Birnen verglichen, indem sie einmal die Kosten für Flüchtlinge einrechneten und dann wieder nicht. Hätten sie das im kommenden Jahr angeblich drohende Minus um diese Sonderausgaben bereinigt, wie das mit EU-Genehmigung auch heuer passiert ist, wäre die Lücke gleich um eine satte Milliarde geschrumpft.

Zweifelhaft ist auch der Hinweis auf die Freigiebigkeit der Parteien in der Vorwahlzeit. Die in der Nationalratssitzung drei Tage vor der Wahl gefällten Beschlüsse waren bei weitem nicht teuer genug, um das strukturelle Defizit – Konjunktureffekte werden dabei herausgerechnet – auf die von Türkis-Blau genannten 1,5 Prozent zu katapultieren. Mehr Geld verbraten hat zwar die scheidende Regierung mit ihrem Update-Versuch zu Jahresbeginn, doch diese Ausgaben sind längst bekannt. Wenn das ÖVP-regierte Finanzministerium nun plötzlich auf Mehrkosten gestoßen sein will, die es vor drei Wochen in einer Budgetvorschau an die EU noch nicht verbucht hat, klingt das mäßig plausibel.

Übervorsicht oder gezielte Strategie

Das gilt umso mehr, als das Wirtschaftsforschungsinstitut in seiner Prognose von Mitte Oktober ein viel positiveres Bild zeichnete. Auch laut diesen Zahlen dürfte das strukturelle Defizit inklusive der Last-Minute-Beschlüsse 2018 über der (heuer erreichten) EU-Vorgabe von 0,5 Prozent liegen, jedoch nur in geringem Ausmaß. Anlass für ein kurzfristiges Sparpaket, merkt Ökonomin Margit Schratzenstaller an, gebe es keinen.

Welches Motiv eine künftige Regierung haben kann, die finanzielle Lage schlechter darzustellen, als sie ist? Im besseren Fall handelt es sich um kaufmännische Übervorsicht bei der Budgetplanung – im schlechteren um gezielte Strategie. Für Parteien, die den Staat abschlanken und Zuwanderern die Sozialleistungen kürzen wollen, ist ein herbeigerechnetes Notszenario die passende Kulisse.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Unabhängig von aktuellen Zahlenspielen gibt es gute Gründe, da und dort im Staat den Rotstift anzusetzen. Langfristig ließe sich viel Geld sparen, indem etwa das föderalistische Wirrwarr entflochten oder das Fördersystem vereinheitlicht wird. Doch in einer inszenierten Budgetlochdebatte, wie sie in der medialen Dynamik rasch zum Selbstläufer wird, drohen alle anderen Ziele abseits der Haushaltsdisziplin unterzugehen.

Dabei stehen künftige Regierungen vor Problemen, deren Lösung nach beträchtlichen Investitionen verlangt. Ein solides Pflegesystem für die immer größere Schar der Alten, die bessere Ausstattung der Schulen, die Integration zehntausender Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt: Österreich hat größere Sorgen als ein paar Zehntelprozentpunkte Budgetdefizit auf oder ab. (Gerald John, 8.11.2017)