Der Gewinnerfilm: "L'Insulte" von Ziad Doueiri.

Foto: Viennale

Am Anfang der Viennale stand die bange Frage: Wie kann das gehen, wie können wir uns zwischen so vielen guten, ganz unterschiedlichen Spiel- und Dokumentarfilmen für einen einzigen entscheiden? Und in der Tat, es wurde mit jedem Tag, nach jeder Projektion, nach jeder von uns eilig in der Pause zwischen zwei Vorführungen einberufenen internen Jurysitzung schwerer, eine Wahl zu treffen. Filme, die an einem Tag noch unsere Favoriten waren, wurden am nächsten schon verworfen, von einem noch besseren übertroffen oder weiterhin mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten verteidigt.

Donnerstagabend ist die 55. Ausgabe der Viennale feierlich zu Ende gegangen. Zwei Wochen lang lockten nationale und internationale Filmproduktionen insgesamt 91.700 Besucher ins Kino.
ORF

Die Stunde der Entscheidung

Schließlich rückte die Stunde der Entscheidung heran. Im Laufe eines interessanten Abends in einem Lokal im zweiten Wiener Gemeindebezirk war es dann so weit. Wir wünschen "Gwendolyn" von Ruth Kaaserer und "Hannah" von Andrea Pallaoro eine cineastische Fangemeinde, die sich für toughe Frauen, die sich ihrem Schicksal mutig und kreativ stellen, interessieren und sie in ihrem Überlebenskampf und ihren Überlebensstrategien begleiten will.

Wir wünschen "The Third Murder" Menschen, die sich für ein ungewöhnliches Gerichtsdrama und die Fragen nach Schuld und Wahrheit in einem Gerichtssaal, hervorragend inszeniert von Koreeda Hirokazu, interessieren. Wir liebten den kleinen Jungen in "The Night I Swam" von Damien Manivel und Igarashi Kohei, den die beiden Regisseure in ein stummfilmartiges, plastisches Ein-Tages-Abenteuer durch Schnee, Raum und Zeit im Norden Japans schicken. Wir ließen uns gerne wieder einmal vom leichtfüßigen Episodenfilm "Person to Person" von Dustin Guy Defa nach New York entführen.

The winner is ...

Aber die Wahl fiel auf "L'Insulte" von Ziad Doueiri, einen kritischen und durchaus polarisierenden Film, dem wir die größtmögliche Verbreitung wünschen. Unsere Entscheidung fiel aufgrund der Thematik, dass nämlich aus einer vermeintlichen Lappalie in einer politisch angespannten Atmosphäre zwischen Menschen mit unterschiedlichem religiösen, wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, hierarchischen und ideologischen Background im Handumdrehen ein Konflikt mit drastischen Folgen entstehen kann. Und schließlich weiß Doueiri, ein französisch-libanesischer Regisseur, der die ernsthafte Auseinandersetzung zwischen einem libanesischen Christen und einem Palästinenser inszeniert hat, aus eigener Erfahrung, wovon er spricht.

Wenn man sich dem nicht verschließen will, sich in die kontroversen Standpunkte hineinversetzen und darüber nachdenken möchte, sich mit einer Frau identifizieren will, die sich für ihr Kind und ihre Familie einfach nur eine friedlichere Welt wünscht, und schließlich ein spannendes Gerichtsdrama sehen will, ist man in diesem Film richtig! (Gabriele Keller, Selina Ströbele, Julia Tanzer, Robert Jolly, Michael Schober, 3.11.2017)