Orhan Pamuk: mythologisch getarnte Gesellschaftskritik.

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Orhan Pamuk
Die rothaarige Frau

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Hanser-Verlag 2017
286 Seiten, 22,70 Euro

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Wien – "Eigentlich wollte ich Schriftsteller werden" – wenn Orhan Pamuk seinen neuesten Roman so beginnen lässt, ist für den Leser klar: Hier geht es um Erzählen, so werden schließlich die Mythen tradiert. Mehr als 25 Jahre, so der Autor, habe er die Idee zu diesem Buch mit sich herumgetragen. Dennoch: Auf den ersten Blick ist es keines seiner großen Werke, es hat auch nicht die Sprachkraft seines Museums der Unschuld und des im Vorjahr erschienenen Romans Diese Fremdheit in mir. Und doch ist auch Die rothaarige Frau ein typischer Pamuk, der die Geschichte vor dem Hintergrund der gespaltenen türkischen Gesellschaft spielen lässt und den Konflikt zwischen Tradition und Moderne beschreibt.

Der Ich-Erzähler Cem ist der Sohn eines Istanbuler Apothekers, der nach einem Nachtdienst nicht mehr nach Hause kommt. Hat ihn die politische Polizei mitgenommen? Schon einmal war Cems Vater, ein linker Aktivist, nach einem Militärputsch verhaftet worden und für zwei Jahre verschwunden. Doch diesmal ist es anders, es wird sich herausstellen, dass er die Familie verlassen hat.

Das ist 1985. Cem wächst von nun an ohne Vater auf. Er will studieren, doch in der Familie fehlt Geld. Cem nimmt Gelegenheitsarbeiten an und wird so Gehilfe von Meister Mahmut, der gerade in Öngören, einem Vorort von Istanbul, einen Brunnen gräbt. Aus dem Verhältnis Meister und Lehrling wird eines wie zwischen Vater und Sohn, das freilich Gehorsam einfordert. Schließlich muss sich der Meister auf seinen Lehrling verlassen können. Jahre später wird Cem sagen: "Ich habe Meister Mahmut geliebt wie einen Vater." Und auch rebelliert.

Aber in diesem Sommer passiert mit dem 17-Jährigen noch etwas anderes: In Öngören gastiert gerade eine Theatertrupp, und Cem verliebt sich in Gülcihan, die rothaarige Frau. Mit ihr, die eigentlich seine Mutter sein könnte, erlebt er eine leidenschaftliche Nacht. Kurz darauf kommt es am Brunnen zum Unglück: Beim Hochziehen aus dem Schacht entgleitet Cem der mit Abraum vollgefüllte Eimer, der zurück in die Tiefe fällt, auf Meister Mahmut. Ein Schmerzensschrei kommt von unten, dann völlige Stille.

In Panik nimmt Cem davon, den nächsten Zug nach Istanbul. Hat er Meister Mahmut getötet? Später versucht er, "so zu tun, als sei nichts geschehen", aber die Schuld begleitet ihn. Über diese Geschichte konstruiert Pamuk, als Überbau, die Erzählung von Ödipus, der seinen Vater ermordet und stellt dem Mythos eine Legende aus dem Persischen gegenüber, in der ein Vater, ebenso unbewusst, seinen Sohn tötet.

Vergangenes holt ein

Warum die beiden Narrative so vehement die Handlung bestimmen, ist nicht ersichtlich, man ahnt nicht, worauf Pamuk hinaus will und wie heftig es noch wird, wenn Cem dreißig Jahre später von der Vergangenheit eingeholt wird. So viel ist klar: Diese eine Nacht mit der rothaarigen Frau blieb nicht ohne Folgen.

Inzwischen hat Cem studiert, ist Bau- und Immobilienunternehmer geworden. Er ist verheiratet, aber die Ehe blieb kinderlos. Als er nach Öngören zurückkehrt, bricht die Geschichte aber in einem Konflikt auf, der die antike Tragödie bestätigt. Da ist plötzlich ein Sohn, Enver, den der Hass gegen den unbekannten Vater treibt. Und da ist wieder die rothaarige Frau, die einmal auch die Geliebte von Cems Vater war.

Der Katastrophenstoff

Stoff für eine Katastrophe, die Pamuk zu einem mythologischen Roman gestaltet hat, und lange fragt man sich, wie das zusammengeht? Aber Pamuk thematisiert ja auch einen politischen, gesellschaftlichen Gegensatz: zwischen westlichem Denken und konservativem, orientalischem Weltbild. Da prallen Wirklichkeit und Mythologie zusammen. Und das ist der Konflikt zwischen patriarchalem System und Moderne, zwischen westlich denkendem Vater und dem ins Traditionsdenken zurückgefallenen Sohn: "Wenn ich ein gehorsamer Sohn bin", sagt der, "kann ich kein richtiges Individuum sein, und wenn ich ein richtiges Individuum bin, kann ich kein gehorsamer Sohn sein." Und: Der "moderne Mensch" ist "vaterlos". Das erklärt das Verlangen nach Autorität und klingt wie der Vorwurf der Türkei an das "gottlose" Europa.

Es ist ein politischer Roman, auch wenn Pamuk mehr die mythologische Folie betont, hinter der er seine Kritik versteckt. Umso schlüssiger erscheint das verblüffende Finale, wobei auch was die Perspektive des Romans anbelangt, ein Kunstgriff frappiert. Zum Schluss erfährt man, wer hier wirklich erzählt hat, womit sich auf raffinierte Art doch noch der Wunsch erfüllt, Schriftsteller zu werden: Der Sohn schreibt die Geschichte des Vaters und schlüpft in dessen Ich. Das ist der literarische Akt nach dem ödipalen Vatermord. (Gerhard Zeillinger, 3.11.2017)