Frage: Rund um die Koalitionsverhandlungen wird nun über die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern diskutiert. Wofür treten ÖVP und FPÖ konkret ein?

Antwort: Bei der FPÖ ist das klar. Parteichef Heinz-Christian Strache hat sich im Wahlkampf wiederholt für die Abschaffung des "Kammerzwangs" ausgesprochen. Im FPÖ-Wirtschaftsprogramm heißt es unmissverständlich: "Zwangsmitgliedschaften widersprechen diametral freiheitlichen Grundsätzen. Dies gilt im Übrigen für alle Kammern und auch für die Zwangsmitgliedschaft bei der Österreichischen Hochschülerschaft." Die FPÖ kann sich auch eine Volksabstimmung zum Thema vorstellen.

ÖVP-Chef Sebastian Kurz hat sich bisher nicht gegen eine Pflichtmitgliedschaft ausgesprochen. Sein Wording lautete im Wahlkampf: Es brauche effiziente und serviceorientierte Kammern. In geleakten Strategiepapieren aus dem Kurz-Umfeld fand sich aber ebenfalls die "Idee" einer "Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft. Ohne Urabstimmung. Weil wir davon überzeugt sind". Kolportiert wurde in ÖVP-Kreisen allerdings auch, dass per Umfrage getestet wurde, wie die Österreicher zu den Kammern stehen – und man deshalb davon absah, die Forderung zu übernehmen.

Christoph Leitl und Rudolf Kaske sind sich einig: Die Pflichtmitgliedschaft wirkt sich positiv auf die Kollektivvertragsdichte aus.
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Frage: Könnte man die Pflichtmitgliedschaft einfach so abschaffen? Wurden die Sozialpartner nicht in die Verfassung geschrieben?

Antwort: Die Sozialpartner wurden von der rot-schwarzen Regierung im Jahr 2007 tatsächlich in die Verfassung aufgenommen. In Artikel 120a heißt es seither: "Personen können zur selbstständigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, die in ihrem ausschließlichen oder überwiegenden gemeinsamen Interesse gelegen und geeignet sind, durch sie gemeinsam besorgt zu werden, durch Gesetz zu Selbstverwaltungskörpern zusammengefasst werden." Und weiters heißt es: "Die Republik anerkennt die Rolle der Sozialpartner. Sie achtet deren Autonomie und fördert den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern."

Frage: Von Pflichtmitgliedschaft ist hier aber keine Rede.

Antwort: Stimmt. Der Verfassungsrechtler Theo Öhlinger erklärt aber: Da die Sozialpartner als Selbstverwaltungskörper erwähnt werden, werde damit auch indirekt die Pflichtmitgliedschaft in der Verfassung verankert. In den Erläuterungen zur Verfassungsbestimmung hat der Gesetzgeber auch explizit betont, dass damit "die obligatorische Mitgliedschaft als Strukturelement zum Ausdruck gebracht" werde. Für Öhlinger ist damit klar: Es braucht eine Verfassungsmehrheit für eine Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft. ÖVP und FPÖ müssten also die Neos an Bord holen, um ausreichend Stimmen im Nationalrat zu bekommen.

Frage: Wofür treten die Neos ein?

Antwort: Sie sprechen sich, wie die FPÖ, klar für ein Ende des Kammerzwangs aus. Parteichef Matthias Strolz kann sich aber eine Etappenlösung vorstellen, wie er im STANDARD-Interview zuletzt erklärte. In einem ersten Schritt sei eine Beitragssenkung möglich. Vorstellbar ist für ihn aber auch, dass es zunächst weiter eine grundsätzliche Pflichtmitgliedschaft gibt, es aber beispielsweise für Einpersonenunternehmen die Option gibt, freiwillig auszutreten.

Frage: Geht das so einfach, die Beiträge zu senken?

Antwort: Ja, dafür reicht sogar ein einfaches Gesetz. Die Arbeiterkammerumlage darf derzeit laut Arbeiterkammergesetz höchstens 0,5 Prozent des Bruttoeinkommens (bis zur Höchstbeitragsgrundlage) ausmachen. Bei der Wirtschaftskammer ist das System komplizierter. Dort gibt es laut Wirtschaftskammergesetz verschiedene Umlagen. Die Grundumlage geht an den jeweiligen Fachverband, dazu kommen die Kammerumlage eins, die sich vom Umsatz berechnet, und die Kammerumlage zwei, die von der Mitarbeiterzahl abhängt. Letztere ist länderweise auch noch unterschiedlich geregelt. Es gilt aber jeweils: Es reicht ein einfacher Nationalratsbeschluss, um die Beiträge zu senken, dafür bräuchten ÖVP und FPÖ also nicht einmal die Neos. Theoretisch könnten die Beiträge sogar auf null gesenkt werden, wie Öhlinger meint. Dann müsste freilich der Staat die Kosten der Sozialpartner übernehmen.

Frage: Und wie wäre das bei der von den Neos vorgeschlagenen Opt-out-Möglichkeit?

Antwort: Laut Verfassungsrechtler Öhlinger wäre auch das mit einfacher Mehrheit möglich. Es darf aber keine unsachliche Ungleichbehandlung geben. Man müsste also begründen, warum es etwa für Einpersonenunternehmen eine Austrittsoption geben soll, für andere Unternehmer aber nicht. Gibt es keine sachliche Begründung für die Ungleichbehandlung, würde sie der Verfassungsgerichtshof wieder aufheben.

Frage: ÖGB-Präsident Erich Foglar brachte am Wochenende eine andere Variante ins Spiel. Wenn schon über die Pflichtmitgliedschaft abgestimmt werden soll, dann plädiere er für Urabstimmungen, sagt er. Was brächte das?

Antwort: Das Prinzip jeder Urabstimmung ist: Es können nur die jeweiligen Mitglieder abstimmen. Über die AK-Pflichtmitgliedschaft würden also nur die AK-Mitglieder, über die WKO-Mitgliedschaft nur die WKO-Mitglieder abstimmen. Dadurch könnte also nicht die Vielzahl an Arbeitnehmern über die Wirtschaftskammer abstimmen. Es käme auch zu keinen Verzerrungen durch Pensionisten oder junge Menschen, die noch gar nicht im Erwerbsprozess sind, aber im Falle einer Volksabstimmung natürlich wahlberechtigt wären.

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Damals waren Taferln im Fernsehen noch eine Innovation. "Jetzt zeig ich Ihnen einmal was", sagte Jörg Haider zu Franz Vranitzky und hielt dem Kanzler wie dem TV-Publikum im September 1994 vor, wie viel der frühere steirische AK-Präsident Alois Rechberger lukrierte.
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Frage: Gab es bereits einmal Urabstimmungen?

Antwort: Ja, im Jahr 1996. Damals war es vor allem Jörg Haider, der gegen die Kammern wetterte. Der langjährige steirische AK-Präsident Alois Rechberger wurde vom damaligen FPÖ-Chef immer wieder als "Paradebonze" tituliert. Bei einer TV-Konfrontation hielt Haider 1994 dem damaligen SPÖ-Chef Franz Vranitzky genüsslich die hohe Gage sowie Pension Rechbergers vor.

Sowohl bei der Arbeiter- als auch bei der Wirtschaftskammer gab es letztlich aber breite Mehrheiten für den Fortbestand des Systems. Bei der Arbeiterkammer sprachen sich mehr als 90 Prozent dafür aus, dass die Arbeiterkammer als "gesetzliche Interessensvertretung für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" bestehen bleibt. Die Wahlbeteiligung lag bei 66,7 Prozent. Bei der Wirtschaftskammer nahmen zwar nur 36,4 Prozent an der Abstimmung teil, der Anteil der Ja-Stimmen überwog aber auch hier mit 81,7 Prozent deutlich. (Günther Oswald, 1.11.2017)