Hashim Thaçi äußert immer öfter Kritik an der EU.

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STANDARD: Sie haben vorgeschlagen, dass die Kosovaren die albanische Staatsbürgerschaft annehmen sollen. Weshalb eigentlich?

Thaçi: Der Kosovo wurde in Isolation gelassen, es gibt bis heute keine Schengen-Visaliberalisierung. Und mein Vorschlag ist völlig im Einklang mit den kosovarischen und albanischen Gesetzen. Die Bürger haben das Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft. Es ist wirklich ein Nonsens, dass Studenten und Businessleute, die reisen müssen, daran gehindert werden, ihre Grundrechte auszuüben. Die Europäische Kommission ist ungerecht zum Kosovo. Deshalb verlieren die Leute das Vertrauen, dass die Europäische Kommission überhaupt eine positive Agenda für den Kosovo hat. Ich bin nicht nostalgisch, wenn es um Titos Jugoslawien geht, aber vor vierzig Jahren sind wir freier gereist als heute.

STANDARD: Wollen Sie, dass die Kosovaren auch jenseits der Visa liberalisierung die albanische Staatsbürgerschaft annehmen?

Thaçi: Es liegt an den Kosovaren, zu entscheiden, ob sie die doppelte Staatsbürgerschaft haben wollen oder nicht. Aber wenn die EU-Kommission mit ihrer Isolation gegenüber dem Kosovo und sogar mit dieser Bestrafung weitermacht, dann schon. Der Kosovo hat 94 von 95 Voraussetzungen für die Visaliberalisierung erfüllt. Wir waren loyal, aber die Umsetzung dieser Voraussetzungen wurde von der EU-Kommission nicht belohnt. Die EU-Kommission fokussiert sich nur auf Serbien und kümmert sich nur um Serbien und nicht um andere Staaten des westlichen Balkans.

STANDARD: Für die Visaliberalisierung wurde allerdings das Grenzabkommen mit Montenegro noch immer nicht ratifiziert. Erst wenn dies passiert, hat der Kosovo eine Chance, eine Schengen-Visaliberalisierung zu bekommen.

Thaçi: Wir waren überrascht, dass die EU-Kommission das als Vorbedingung genannt hat. Aber die Ratifizierung des Grenzabkommens wurde von einer Bedingung zu einer Falle für den Kosovo.

STANDARD: Wird der Kosovo das Grenzabkommen bald ratifizieren?

Thaçi: Ich hoffe das, aber wir haben noch kein Datum dafür. Wir sind jedoch weiterhin besorgt, dass es leicht passieren kann, dass die EU-Kommission trotz der Ratifizierung der Demarkierung zögern wird, den Prozess der Visaliberalisierung erfolgreich abzuschließen.

STANDARD: Wenn alle Kosovaren die albanische Staatsbürgerschaft hätten, dann könnten sie alle in Albanien wählen, und das würde die Sorge hinsichtlich eines Großalbanien verstärken. Kann das nicht zu Instabilität auf dem Balkan führen?

Thaçi: Die bosnischen Serben haben ja bereits die serbische Staatsbürgerschaft und die bosnischen Kroaten die kroatische Staatsbürgerschaft. Warum sollten die Kosovaren davon ausgenommen werden? Es ist ja von der Verfassung gedeckt. Es geht nicht darum, die Grenzen zu ändern.

STANDARD: Es geht nicht um Großalbanien?

Thaçi: Nein, das hat nichts mit Großalbanien zu tun, sondern es geht nur um freies Reisen. Wir sehen, dass die EU-Kommission nur Serbien belohnt. Dabei macht Serbien in den EU-Verhandlungen nicht wegen der Erfüllung europäischer Kriterien Fortschritte, sondern weil es die EU einfach nur mit der "russischen Karte" erpresst. Noch dazu setzt Serbien die Vereinbarungen, die im Dialog mit dem Kosovo gemacht wurden, nicht um.

STANDARD: Wird der Dialog mit Serbien heuer wieder aufgenommen?

Thaçi: Ich hoffe das. Zum Dialog gibt es keine Alternative. Wir wollen ein historisches, finales Rahmenabkommen.

STANDARD: Ist der Kosovo bereit, den Nordkosovo, wo hauptsächlich Serben leben, aufzugeben?

Thaçi: Wir sollten ein für alle Mal sehen, dass die Trennung von Menschen entlang ethnischer Linien keine Lösung ist. Der Kosovo ist ein souveräner Staat und hat seine territoriale Integrität. Die Änderung der Grenzen kann keine nachhaltige Lösung bieten, obwohl die Albaner in der Region in fünf verschiedenen Staaten leben. Wir sollten für ein europäisches Modell mit offenen Grenzen in einer integrierten europäischen Region arbeiten. (Adelheid Wölfl, 27.10.2017)