Die Straßen als Spielplatz: Brooklynn Prince (links) und Bria Vinaite in Sean Bakers Mutter-Tochter-Drama "The Florida Project".

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Sean Baker: "Man stellt sich vor, dass bei Kindern die Sinne geschärft sind: Töne sind lauter, Farben kräftiger, Geschmäcke stärker."

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STANDARD: "The Florida Project" erzählt von einer Mutter und ihrer Tochter ohne festen Wohnsitz, die in einem Motel in Central Florida unterkommen. So etwas ist ja offenbar eine gängige Praxis – wie sind Sie auf diesen Schauplatz gestoßen?

Baker: Ich wusste nichts davon. Mein Co-Drehbuchautor Chris Bergoch hat mich darauf aufmerksam gemacht, er ist selbst aus Orlando und liebt Disneyworld, sein ganzes Leben ist Disney, "Star Wars" et cetera. Er hat mir dann Artikel über Familien gezeigt, die mit ihren Kindern in Motels gleich außerhalb des Magic Kingdom leben. Wie ich dann nachgelesen habe, gibt es das schon hundert Jahre lang in den USA: Ein Motel oder Hotel kann für jemanden, der sich das Wohnen nicht leisten kann, die letzte Zuflucht sein, bevor man auf der Straße oder in einem Heim landet.

STANDARD: Die Anbindung an die Disney-Traumwelt lässt den Ort ja geradezu irreal erscheinen ...

Baker: Was es noch ironischer macht, ist die Tatsache, dass diese Motels einst für Touristen gebaut wurden, die Disneyworld besuchen. Man hat sich an dessen Stil orientiert, daran also schmarotzt. Sie tragen Namen wie Enchanted Inn oder eben Magic Castle. Mir ist immer wichtig, dass der Schauplatz selbst eine Figur ist. Das Motel Magic Castle kam mit diesem wunderbaren Produktionswert daher, es war violett, da es erst vor kurzem neu angestrichen worden war.

STANDARD: Wie kam es zu der Entscheidung, ganz aus der Perspektive der Kinder zu erzählen?

Baker: Ich wollte schon immer einen Kinderfilm drehen, beeinflusst von Filmen wie "Kes", François Truffauts "Le quatre cents coups, oder The Little Rascals" – das waren komödiantische Shorts, die ab 1924 gedreht wurden, zuerst stumm, später mit Ton. Sie waren auf Kinder ausgerichtet, erzählt wurde jedoch vor dem Hintergrund der Depressionszeit und der Armut. Als ich klein war, lachte ich mit diesen Kindern, bemerkte höchstens unbewusst das Umfeld; es dauerte Jahre, bis ich die Politik hinter diesen Filmen entdeckte. Als Chris mir dann dieses Sujet mit den Motels präsentierte, sah ich eine Möglichkeit, etwas Ähnliches mit diesem komischen Haufen zu machen und so eine sehr ernste Angelegenheit zu behandeln.

STANDARD: War es schwierig, diesen kindlichen Blick einzunehmen?

Baker: Wir haben es auf verschiedenen Wegen getan. Ich glaube, Steven Spielberg hat damit begonnen, die Kamera auf den Blickhorizont der Kinder auszurichten. Wir haben sie auch leicht versetzt von unten gefilmt, um sie machtvoller erscheinen zu lassen. Sie sollten sich richtig groß fühlen. Und dann hat mein Kameramann Alexis Zabe diese großartige Fähigkeit gehabt, diese Pastellfarben noch zu verstärken. Bei Kindern, stellt man sich vor, sind die Sinne geschärft, aufnahmefähiger. Töne sind lauter, Farben kräftiger, Geschmäcke stärker. Sie absorbieren ihre Umwelt – und manchmal auch wieder nicht. Dann sind sie ganz schnell wieder woanders und denken nur an das nächste Eis!

STANDARD: Das Tolle daran ist, dass die Kinder auch die Form des Sozialdramas verändern. Der Film ist nicht moralisierend oder pessimistisch, für Kinder ist dieser Ort ein Tummelplatz für die Fantasie.

Baker: Genau. Kinder machen immer das Beste aus ihrer Situation. Sie haben einen positiven Dreh, etwa wenn sie auf Safari in die umliegende Natur gehen. Verlassene Wohnungen verwandeln sich in Spukhäuser. Wir wollten betonen, dass Kinder immer Kinder bleiben – solange es halt geht.

STANDARD: Wollten Sie damit auch aus den Grenzen des sozialrealistischen Kinos ausbrechen?

Baker: Ich liebe Ken Loach, aber mir ist natürlich auch bewusst, dass wir in anderen Zeiten leben. Und dass die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums eine andere geworden ist. Loach ist ein bewundernswerter Filmemacher, aber ich möchte ein größeres Publikum erreichen. Bei "Tangerine" haben wir das mit reiner Unterhaltung versucht. Das Publikum will bedauerlicherweise über bestimmte Themen nichts hören, wenn es diese als zu bedrückend empfindet. Man muss es auf raffiniertere Weise für sich gewinnen, dann kann man das auch dafür nutzen, Interesse zu wecken. Erziehung ist der Schlüssel zur Veränderung.

STANDARD: Hatte die großartige Darstellerin von Moonie, Brooklynn Prince, schon Schauspielerfahrung?

Baker: Sie war das einzige Kind mit Erfahrung. Außerdem ist ihre Mutter Schauspieltrainerin. Das brauchten wir auch für diese Rolle – Brooklynn war professionell und so enthusiastisch, sie wollte am Ende des Tages das Set nicht verlassen! Wir hatten nur begrenzt Zeit mit den Kindern, höchstens sechs Stunden am Tag, so lautet das Gesetz – sonst wäre es Kinderarbeit. Brooklynn hat dann jeden Tag gesagt: "Ach was, weiter, ich werd's eh niemandem sagen."

STANDARD: Können Sie ein bisschen über das Verhältnis der Mutter zur Tochter erzählen? Sie kommt ihrer Aufsichtspflicht ja nicht nach ...

Baker: Das ist immer kompliziert. Natürlich wird Moonie Gefahren ausgesetzt. Zugleich wollte ich jedoch, dass das Publikum gegenüber der Figur der Mutter, Hallie, Mitgefühl empfindet. Als 22-Jährige ist sie selbst noch ein Kind. Das Motel ist ihr letzter Unterschlupf, sie wird alles tun, um dieses Dach über dem Kopf zu behalten. Ich wollte auch die Kriminalisierung von Sexarbeit thematisieren. Hallie hat keine Ausbildung, keine Unterstützung durch ihre Familie, sie ist an einem Punkt, an dem sie keine Arbeit mehr bekommt. Sie hat kaum Freunde, keine Wahl. Wenn man so viele Dinge verliert – was schneller passiert, als man denkt -, ergreift man verzweifelte Maßnahmen.

STANDARD: Sie haben auch schon in Ihren anderen Filmen Ränder der Gesellschaft behandelt. Woher kommt dieser spezifische Blick?

Baker: Ich bin besonders an der Schattenwirtschaft interessiert. Bedauerlichweise rackern sich die Menschen dort am meisten ab, es sei denn, man gehört zur Mafia. Man wählt die Schattenwirtschaft nicht aus, man wird gezwungen, in ihr zu arbeiten. Dennoch kriminalisiert man diese Menschen. Ich habe Filme über undokumentierte Einwanderer gemacht, die Schmuggelware verkaufen. Ich habe Sexarbeit, das Dealen mit Drogen thematisiert. Das alles geschieht in den USA zu einer Zeit, in der die Klassengegensätze größer werden. Die Schattenwirtschaft wächst weiter. Ich reagiere auch auf Themen, die im Kino zu wenig vorkommen, es werden so viele Communitys ignoriert. Ich würde solche Filme gern einmal produzieren. Die Filmindustrie muss sich öffnen, sonst wird es wirklich bald lächerlich. (Dominik Kamalzadeh, 24.10.2017)