Die Zeit der Machtworte ist in der Löwelstraße vorbei.

Foto: Matthias Cremer

Im Wahlkampf fühlten sich die Kampagnenmacher der Parteizentrale gegängelt, Aggressionen schaukelten sich auf – bis zum berühmten Bodycheck.

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Blick zu Übervater Kreisky im Erkerzimmer der Parteizentrale. Christian Kern wollte aus der Löwelstraße wieder etwas machen, doch mancher Genosse ist enttäuscht: "Auch er hat sich nicht gekümmert."

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Es war ein großangelegter Versuch, das Parteivolk auf Trab zu bringen. Christian Kern stand im Zenit seiner Popularität, da startete er eine Mitgliederbefragung über die Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA. Die Genossen sollten sehen, dass der neue Chef nicht über ihre Köpfe hinwegregiert, aber schon die an Funktionäre verteilte Infobroschüre ließ Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Projekts aufkommen: Auf der Titelseite war das nicht eben nebensächliche Wörtchen TTIP falsch geschrieben.

Die Episode ließe sich als peinlicher, aber läppischer Schnitzer abhaken, wie er in jedem Unternehmen passiert – wenn es denn der einzige geblieben wäre. Doch was immer Kern in den folgenden Monaten in Angriff nahm, Pannen waren sein ständiger Begleiter. Ein Wahlkampfleiter, der freimütig Strategien ausplaudert; "Maulwürfe", die peinliche Interna an die Öffentlichkeit spielen; und ein wildgewordener Berater aus Israel, der den eigenen Auftraggeber mit einer stümperhaften Schmuddelhomepage an den Rand des Abgrundes treibt: Was läuft da inmitten der Partei schief, dass all dies geschehen konnte?

Uneinnehmbare Bastion

Wer nach dem Maschinenraum der Sozialdemokratie sucht, landet an einer geschichtsträchtigen Wiener Adresse. "Zauberhaufen" nannten die 1683 anstürmenden Türken die schier uneinnehmbare Löwelbastei am Rande der heutigen Innenstadt – und noch hunderte Jahre später galt der Ort als Bollwerk. Seit Weltkriegsende beherbergt ein Gründerzeitbau in der Löwelstraße 18 das Hauptquartier der SPÖ, über Dekaden ein machtvoller Apparat. Bis zu 70.000 Funktionäre unterstanden den Zentralsekretären, das parteieigene Wirtschaftsimperium reichte von Druckereien über Versicherungen bis zu Reisebüros.

Mit Schmerz registriert Karl Blecha all die Berichte über die kleinen und großen Katastrophen im Schoß der Partei. In den goldenen Zeiten unter Bruno Kreisky hat der heute 84-Jährige mit dem kongenialen Organisator Fritz Marsch in der Löwelstraße ein straffes Regiment geführt. "Wenn ich etwas gesagt habe, war es so, als ob der Kanzler gesprochen hätte", erzählt Blecha. "Dass da ein Ministerium eine eigene Linie fährt, hätte es nicht gegeben. Da hätte ich sofort hineingefunkt."

Mitgliederschwund

Doch weil der einzelne Akteur auf der politischen Bühne nach und nach mehr zählte als das Kollektiv, verschoben sich die Gewichte. Die SPÖ verlagerte Personal in die Kabinette von Kanzler und Ministern, (verlorene) Wahlkämpfe zehrten die Kassen der Zentrale ebenso aus wie Mitgliederschwund. Seit 1980 ist die Zahl der Parteibuchbesitzer von 730.000 auf 200.000 geschrumpft.

Als die SPÖ 2000 aus der Regierung flog, folgten harte Schnitte. Aus Geldnot lagerte die Bundespartei die roten Bezirkssekretariate in die Landesorganisationen aus – und gab damit ein bundesweites Durchgriffsrecht auf. Die Zeit der Machtworte war vorbei.

An der Oberfläche versuchte Kerns Vorgänger Werner Faymann noch einmal ein Upgrade, indem er der Bundesgeschäftsstelle ein markantes, weil junges und weibliches Gesicht verpasste. Der Marketinggag ging nach hinten los. Als Organisatorin erwarb sich Laura Rudas manche Meriten, die Außenwirkung aber war ein Desaster. Gehversuche in den sozialen Medien mündeten in öffentlichen Spott über eingekaufte Freunde auf Faymanns Facebook-Seite, Videos von Rudas' holprigen Reden wurden nicht zuletzt in roten Reihen hämisch verbreitet.

Stiefkinder der roten Familie

Als Rudas 2014 ging, waren die Löwelstraßler endgültig zu Stiefkindern der roten Familie mutiert. Die (Boulevard-)Medien bediente Faymann selbst, Entscheidungen traf er im engen Kreis im Kanzleramt – und Parteileute mussten, wie ein Genosse sagt, "draußen auf dem Arme-Sünder-Bankerl warten".

Seit 2010 ist der Personalstand von 150 auf 80 Bedienstete geschrumpft, rechnet Andrea Brunner vor. Die 38-Jährige, die seit drei Wochen als provisorische Bundesgeschäftsführerin gemeinsam mit Christoph Matznetter Troubleshooterin spielt, lässt auf "ihre" Löwelstraße trotzdem nichts kommen. "Ich liebe dieses Haus", sagt Brunner, ehe sie zur Führung durch den verwinkelten Altbau lädt. Das Interieur ist abgenützt, die Belegschaft aber recht jung – und von leeren Schreibtischsesseln dürfe man sich nicht täuschen lassen: "Derzeit werden viele Überstunden abgebaut."

Die Partei zusammenhalten und für Wahlkämpfe in Gang bringen: Das ist das Kerngeschäft des Apparats. Die Zentrale betreut die Mitglieder, organisiert Events, versorgt Funktionäre mit Wordings und Argumenten, trägt Botschaften ins Land – und das längst nicht nur per altvatrische Presseaussendung, wie die Chefin betont. Brunner zückt eine Statistik, die der SP-Homepage die höchste Interaktion aller Parteiseiten bescheinigt, rekordverdächtig seien auch die 50.500 Gespräche der im August angelaufenen Telefonaktion, um Sympathisanten zu binden. Dass das Haus keine Kampagne zustande gebracht habe, könne niemand behaupten, sagt Brunner. "Sie wurde nur von der Silberstein-Debatte überdeckt."

Ein Drittel feindlich gesinnt

Allerdings kursieren auch andere Erfahrungsberichte. "Ein Drittel war motiviert, ein Drittel wollte seine Ruh', ein Drittel war allem Neuen feindlich gesinnt", sagt ein Ex-Mitarbeiter, der sich so wie ein halbes Dutzend anderer Gesprächspartner des STANDARD Anonymität ausbedingte. Laschierer gebe es in jedem Betrieb, doch die Trägheit im SP-Biotop habe schon eine eigene Qualität. Der Betriebsrat ist naturgemäß stark, und weil die meisten Angestellten auch Funktionäre der Partei seien, könne sich jeder gegen Versetzung oder Rauswurf wehren: "Eigentlich müsste Kern so durchgreifen wie Sebastian Kurz."

Derart brachiale Methoden kündigte der neue SPÖ-Chef nicht an, als er die Zentrale wieder zum roten Zentrum machen wollte. Doch dass die Partei "raus aus dem eigenen Saft" müsse, erschloss sich auch Kern – und verleitete ihn zu einer folgenschweren Entscheidung. Es war der Kanzler, der Tal Silberstein als Antreiber in die Löwelstraße geschickt hat.

Vom Kanzler gelobter Guru

"Wie ein Berserker" habe der Israeli mit autoritärer Attitüde ("We need this now, immediately!") im Wahlkampfteam umgerührt, heißt es. Manche schätzten Silberstein als kreativen Unruheherd, der neben einigem Unsinn manchen Geistesblitz beförderte – andere sahen in ihm den Spalter, der Planung hintertrieb und Mitarbeiter geschickt gegeneinander ausspielte, um das Heft immer mehr an sich zu reißen. Wer widerspricht schon einem vom Kanzler gelobten Guru, für den die Partei ein Heidengeld ausgibt?

Bevormundet und abgehängt fühlten sich Kampagnenmacher in der Löwelstraße, und das auf allen Ebenen. Nicht nur einmal habe man von wichtigen Auftritten Kerns oder einzelner Minister erst aus den Medien erfahren, so die Klage, wer sich nach konkreten Sprachregelungen erkundigt habe, sei vom Kanzlergefolge mitunter flapsig abgeschasselt worden: "Lest nach, was Kern der Austria Presse Agentur gesagt hat!"

Wie in einem Teufelskreis, erinnert sich ein Funktionär, habe sich gegenseitiges Misstrauen aufgeschaukelt – um sich in der medial lustvoll breitgetretenen "Eselei" (Kern) im Kanzleramt zu entladen. In einer der zahllosen Streitereien um unabgestimmte Wordings und angebliche Eigenmächtigkeiten hat ein Mitarbeiter des Regierungschefs einen um zwei Köpfe größeren Löwelstraßen-Mann mit einem beherzten Rempler zu Boden gestreckt.

Gestürzter Hausherr

Gestürzt ist auch der Hausherr der Zentrale. Georg Niedermühlbichler übernahm – wie es im Politjargon so herrlich unbestimmt heißt – die Verantwortung dafür, dass Silberstein nicht nur Dirty-Campaigning-Seiten auf Facebook betrieb, sondern auch Personal mitgebracht hatte, das dann mutmaßlich Insiderinformationen publik machte. Es gibt keinen Beleg dafür, dass der 51-Jährige von den klandestinen Umtrieben des Spindoktors gewusst hat, doch der Vorwurf des multiplen Aufsichtsversagens blieb picken. Maxime müsse sein, sagt der Veteran Blecha, sich jeden neuen Mitarbeiter an sensibler Stelle "vorher sehr genau anzuschauen".

Seit Niedermühlbichler Ende September als Bundesgeschäftsführer zurückgetreten ist, liest er wenig Schmeichelhaftes über sich in der Zeitung. Als schwache Figur kommt er rüber, der "Falter" nannte ihn einen "ruhigen, aber etwas einfältig wirkenden Organisator". Und tatsächlich gab Niedermühlbicher Vorbehalten schon einmal vor der Silberstein-Affäre Nahrung. Vor Journalisten hatte der Parteimanager strategische Koalitionspläne ausgeplaudert, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren. Weder er noch sein Mitarbeiter hatten – wie geplant – das Gespräch vorher als "vertraulich" definiert.

Personalnot in der Zentrale

Dennoch gibt es namhafte Genossen, die vor einseitigen Schuldzuweisungen warnen: Wer die "Löwelgrube" als Epizentrum des Chaos brandmarke, mache es sich zu leicht. Denn dass Dinge aus dem Ruder gelaufen seien, habe viel mit Entscheidungen von ganz oben zu tun.

Die Personalnot in der Zentrale sollte Parteichef Kern nicht entgangen sein, und auch manches Unheil rund um Silberstein hatte sich angekündigt. Als juristische Vorwürfe gegen den Berater Anfang des Jahres erstmals zum Thema wurden, hielt Kern ebenso an ihm fest wie im Sommer, als die Bruchlinien im Wahlkampfgefüge offensichtlich wurden: Nach nur wenigen Wochen war Kampagnenchef Stefan Sengl zermürbt wieder abgetreten. Bis heute verbreitet Kern eisern die Version von den "privaten Gründen", doch SP-intern ist es kein großes Geheimnis: Ein entscheidender Grund waren die Zerwürfnisse mit und um Silberstein.

Von Anfang an sei die Grundaufstellung des Wahlkampfteams, in dem viel zu viele mitgeredet hätten, verunglückt gewesen, urteilt ein hochrangiger Sozialdemokrat, und das liege in der Verantwortung des Oberbosses: "Letztlich hat sich auch Kern nicht wirklich um die Partei gekümmert."

Suche nach neuen Verbündete

Nun muss er sich kümmern. Will der 51-Jährige die SPÖ auch in der Opposition führen, kann er auf keinen Stab im Kanzleramt zurückgreifen – sondern hat sich mit den Ressourcen zu begnügen, die sich in der Löwelstraße bieten.

Karl Blecha hat einen Tipp, was Kern vom Erkerzimmer im zweiten Stock aus, wo alle Vorgänger von der Wand schauen, in Angriff nehmen sollte. Die Partei müsse endlich wieder die Fühler nach neuen Verbündeten ausstrecken – aber nicht, indem sie irgendwem Positionen aufzuzwingen versuche: "Sie muss einfach einmal zuhören, welche Ideen da sprudeln, und die Blumen blühen lassen."

In der "atomisierten" Gesellschaft von heute sei dies ungleich schwieriger als zu seinen Zeiten, sagt Blecha. Aber der Versuch sei Pflicht – und zwar in Form einer breiten Debatte über das ewig verschobene neue Parteiprogramm: "Jetzt gibt es keine Ausrede mehr." (Gerald John, 21.10.2017)