Eltern und Kinder sollen streiten – nur so lernt der Nachwuchs eine richtige, niveauvolle Streitkultur kennen.

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Roland und Matthias haben zwei Kinder in Pflege aufgenommen. Der vierjährige Alexander ist ein ziemlich ausgeglichenes kleines Kerlchen, der sechsjährige Justin jedoch hat es zurzeit mit seiner Wut und Aggression nicht einfach. Er fühlt sich ständig benachteiligt, schreit, tobt und wirft schon mal mit Gegenständen um sich. Die Pflegeeltern fühlen sich in einer solchen Situation macht- und ratlos.

Silvias Stimmungsschwankungen sind unvorhersehbar: Genauso sehr, wie sie sich freuen kann, kann sie auch in Rage geraten und vor lauter Wut rotsehen. Das macht es ihren Kindern nicht gerade einfach. Manchmal trauen sich die Mädchen gar nicht, sich ihrer Mutter anzuvertrauen.

Die Familie, ein Ort zum Streiten und Versöhnen

Streiten zu können ist genauso wichtig wie das richtige Verhalten, das Beherrschen von Alltagsfertigkeiten oder Empathie. Wer mehr als ein Kind hat, kann wohl unzählige Geschichten erzählen, wie der Nachwuchs das Streiten ausgiebig ausprobiert.

Da können schon mal in Bruchteilen von Sekunden ganze Lego-Bauwerke einem Streit zum Opfer fallen, Zeichnungen zerrissen werden oder das Lieblingskuscheltier gegen die Wand fliegen. Der Nachwuchs streitet mit hochrotem Kopf, lautem Geschrei, dann knallen die Türen. Wut und Aggression sind förmlich zu spüren, und die Stimmung erreicht einen gewaltigen Tiefpunkt.

Streiten, eine Sache des Temperaments

Sicherlich: Es hängt vom Temperament eines Menschen ab, wie ein Streit verlaufen kann. Mit der Zeit entwickelt ein Kind ein Gefühl dafür, wie es sich behaupten kann, und setzt Mittel ein, um den Streit zu gewinnen oder sich dieser Situation zu entziehen. Erwachsene dienen dem Kind dabei mit ihrem Verhalten und ihrer Begleitung als Vorbild. Da kommt es drauf an, welche Streitkultur eine Familie entwickelt hat und worauf sich Eltern miteinander und mit ihren Kindern geeinigt haben.

Eltern sollen vor Kindern streiten

Unstimmigkeiten und Uneinigkeiten sind sogar notwendig, denn kein Mensch kann sich einem anderen so anpassen, dass er auf sich selbst und seine Gefühle, Meinungen und Überzeugungen vergisst. Ein Streit dient dazu, dies zu klären, Gefühle zu erleben und sich selbst in die Auseinandersetzung mit jemand anderem zu bringen. So ist Streit per se nichts Negatives, nur die Auswirkungen dessen können als negativ erlebt werden.

Eltern dürfen und sollen durchaus vor ihren Kindern streiten. Diese bekommen sowieso mit, wenn in der Familie etwas nicht stimmt. Es ist nicht sinnvoll so zu tun, als sei alles in Ordnung. Damit verunsichern Eltern manchmal Kinder mehr, als dass es für diese hilfreich ist. Den Kindern zu erklären, dass es in diesem Streit nicht um sie geht, beruhigt oftmals. Manchmal glaubt der Nachwuchs, für den Streit unter Erwachsenen verantwortlich zu sein.

Auf das Wie kommt es an

Streitkultur erfahren Kinder in ihrer engsten Umgebung – auch von Freunden. Unablässig ist, dass Kindern vorgelebt wird, dass Streiten auch ohne verletzende Schimpfworte und mit rücksichtsvollem Verhalten geschehen kann. Allen Beteiligten muss klar sein, dass Konflikte ausgetragen und Lösungen gefunden werden müssen. Jedoch muss dem Kind vermittelt werden, dass durch einen Streit die Beziehung zwischen den Streitparteien nicht infrage gestellt wird und Eltern ihr Kind dennoch lieben. Das Kind muss außerdem lernen, dass nicht jeder Streit gewonnen werden kann, dass man nicht untergriffig werden muss – das hilft dabei zu vermitteln, einen Konflikt fair austragen zu können.

Vernünftige Streitkultur

Es macht einen großen Unterschied, ob Erwachsene miteinander, Kinder untereinander oder Eltern mit Kindern streiten. Zuallererst ist wichtig, dass sich Eltern und Bezugspersonen ihrer Rolle als Erziehende bewusst sind. Kinder brauchen ein klares Gegenüber. Das heißt, dass Eltern und Bezugspersonen dem Kind ermöglichen, den Konflikt auszutragen – und ihm dabei gleichzeitig Halt bieten können. Damit ist gemeint, dass ein Kind selten erwachsene Streitstrategien parat hat. Es kann also nichts mit Sarkasmus und Ironie anfangen. In diesem Punkt sind die Erwachsenen den Jüngeren überlegen.

Manche Erwachsene greifen auch dazu, dem Kind ein schlechtes Gewissen zu machen. Auch dies ist nicht hilfreich für ein Kind, das gerade dabei ist, eine vernünftige Streitkultur zu erlernen. Aber es darf schon mal laut werden bei einem Streit. Und er muss auch ein Ende haben. Dieses kann bei kleineren Kindern auch in Aussicht gestellt werden.

Streit ist ein ziemlich umfassender Begriff, jedoch sollte in einer Familie für viele Facetten der Auseinandersetzung Raum sein. Kinder, die gelernt haben, sich ohne Konsequenzen bei Meinungsverschiedenheiten zu äußern, lernen auch, wann es klüger ist, sich zurückzuhalten oder auf Konfrontation zu gehen.

Welche Streitkultur haben Sie in Ihrer Familie?

Streiten Sie als Eltern vor Ihren Kindern, oder verschieben Sie die Klärung von Meinungsverschiedenheit auf später, wenn die Kinder schon schlafen? Posten Sie Ihre Erfahrungen, Fragen und Ideen im Forum! (Andrea Leidlmayr, Christine Strableg, 20.10.2017)