Wien – Auch im revolutionären Sozialismus läutet morgens der Wecker. Das "gute Auskommen" für alle muss schließlich erst aufgebaut werden, und wer würde sich daran nicht gern beteiligen? Die angehende Lehrerin Jelena Kusmina jedenfalls springt geradezu euphorisch aus dem Bett, zum Kaffee muss sie noch schnell "den Plechanow wiederholen" (einen Theoretiker, der mit der Parteidiktatur der Bolschewiken übrigens nicht ganz mitging), und dann steht sie auch schon in einer Klasse, neben sich einen Globus.

Eine Lehrerin wird in "Odna" (1931) ins sibirische Altai-Gebirge abkommandiert und muss sich zum Wohle des Volkes gegen einen reichen Kulak durchsetzen.
Foto: Filmmuseum

Auch in Odna (Allein), einem Film von Grigori Kozinzew und Leonid Trauberg aus dem Jahr 1931, ist, wie in einem berühmten Film von Dziga Vertov, ein Sechstel der Erde dem Kapitalismus entwunden und bereit für etwas ganz Neues in der Geschichte: "Wie schön wird das Leben sein!", singt der Verlobte von Jelena zur Musik von Schostakowitsch. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn Jelena bekommt eine Stelle im Altai zugewiesen, also in einem der hinteren Winkel des kommunistischen Sechstels. Das Dilemma zwischen historischer Berufung und bürgerlichen Träumen wird in Odna in einer wunderbaren Szene deutlich, in der die Kaffeetassen im Schaufenster lieblich singen: "Bleib hier!" Die Sirenen des alten Menschseins sind aus Porzellan, die Zukunft aber liegt hinter dem Baikalsee.

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Was aber wurde aus dieser Zukunft? Dieser Frage geht die Retrospektive Utopie und Korrektur im Österreichischen Filmmuseum nach. Aus naheliegenden Gründen widmet sich die Schau, die dieses Jahr parallel zur Viennale und in Verabredung mit ihr stattfindet, dem Oktober 1917 und den Nachwirkungen der Revolution in Russland, die dem 20. Jahrhundert eine Systemkonkurrenz bescherte, die als Welt(bürger)krieg und Kalter Krieg fast 70 Jahre dauerte.

Über Eisenstein hinaus

Das Revolutionskino im engeren Sinn, also die intensive Begleitung des Aufbaus der Sowjetunion durch Künstler wie Pudovkin, Eisenstein oder eben Vertov, hätte für eine Schau mehr als ausgereicht, zumal die ethischen und ideologischen Fragen schon für diese Phase komplexer nicht sein könnten. Doch Utopie und Korrektur stellt die Ausgangsfrage anders. Die beiden russischen Kuratoren Naum Kleiman (der Experte par excellence zum Thema) und sein junger Kollege Artiom Sopin werfen einen Blick auf die ganze Zeit der Sowjetunion. Diese Perspektive entspricht übrigens auch zum Beispiel der eines anerkannten Experten wie Orlando Figes, der für Russland gleich eine hundert Jahre dauernde Revolutionsgeschichte ausmacht. Kleiman und Sopin beschränken sich auf die Zeit zwischen 1926 (Die Generallinie von Eisenstein, Ein Sechstel der Erde von Vertov) und 1977. Der Boxerfilm Viktor Krochins zweiter Versuch dient als eine Art Schlussstrich unter die vielen Momente der Revision, die in dieser Retrospektive zu finden sind. Das Programm ist so organisiert, dass jeder Film aus der im engeren Sinn revolutionären Periode einen Partner aus der Zeit der Reflexion, der Neuausrichtung, der Korrektur bekommt.

Das Filmmuseum kann dabei an eine seiner bedeutendsten Reihen aus der jüngeren Vergangenheit anschließen, an die Tauwetter-Retrospektive im Jahr 2012. Mit dem Tod von Stalin und der kontroversen Entstalinisierung kam in der Sowjetunion auch die Frage des Erfolgs der Revolution auf die Agenda – und damit die Frage, ob es für die vielen Opfer des Terrors und der brutalen Kollektivierungen so etwas wie eine historische Rechtfertigung geben konnte.

Tatsächlich könnte man in einem Film wie Seltsame Menschen (1969) von Vasili Suksin so etwas wie eine Normalisierung oder Humanisierung des Kommunismus ausmachen. Auch hier geht es um die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie (neuerlich der Altai, ein Bindeglied zum Partnerfilm Odna), aber die Konflikte sind nicht mehr notwendig tödlich, und sie finden nicht vor dem Hintergrund des Gulags statt. So umkreist auch Utopie und Korrektur, wie damals schon Tauwetter, noch einmal die heute mehr denn je relevante Frage, ob es zu dem System des (neo)liberalen Kapitalismus eine historische Alternative hätte geben können. (Bert Rebhandl, 18.10.2017)