Im Fall der dritten Flughafenpiste stellt sich Wagner die Frage, "inwiefern Gesetze, die höherrangige Interessen nicht einmal in eine Abwägung hineinlassen, überhaupt verfassungskonform sind".

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Erika Wagner erhofft sich von der nächsten Regierung mehr Handlungen in puncto Umweltschutz.

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Wien – Für die Umweltjuristin Erika Wagner geht die heimische Politik in Sachen Klimaschutz nicht weit genug. Wirtschaftswachstum als Staatsziel zu verankern hält sie für "sinnleer", dafür gebe es schon das Staatsziel Nachhaltigkeit.

STANDARD: Wieso spielt ökologische Nachhaltigkeit im Wahlkampf so eine geringe Rolle?

Wagner: Das frage ich mich auch. Sicherlich gibt es eine Partei, von der weiß man, dass ihr Umweltschutz ein wichtiges Anliegen ist, aber aufgerufen wären alle Parteien. Die Zeit wäre auch reif: Erstens ist die wirtschaftliche Lage gut – wie die Prognosen bestätigen. Das heißt: Das Argument "Ja, aber nicht gerade jetzt" zieht nicht. Zweitens können wir auch nicht mehr länger zuwarten: Wir sind – wie Klimaforscher betonen – die letzte Generation, in der es noch möglich ist, die Erderwärmung auf ein für Mensch und Natur tolerables Maß zu stabilisieren.

STANDARD: Ist das Thema für Wähler nicht greifbar genug?

Wagner: Ich glaube, das Thema ist für Bürger sehr interessant und für jeden relevant. Es darf aber nicht als Totschlagargument gegen die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgespielt werden – und darin sehe ich in der aktuellen Diskussion das Problem.

STANDARD: Wie sinnvoll ist Nachhaltigkeit als Staatsziel?

Wagner: Sehr sinnvoll sogar. Wir haben dieses Staatsziel seit 1984, und es war seither in vielen Causen ein wichtiges Zünglein an der Waage – sowohl vor dem Verfassungsgerichtshof wie auch in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs.

STANDARD: Steht Nachhaltigkeit nicht in Konkurrenz zu wirtschaftlichem Wachstum?

Wagner: Nein, absolut nicht. 2013 wurde das Staatsziel Nachhaltigkeit als moderner Begriff zusätzlich zum Staatsziel umfassender Umweltschutz eingeführt. Nachhaltigkeit birgt aber per se die Komponenten Ökonomie, Soziales und Ökologie in sich. Wenn wir von Nachhaltigkeit sprechen, sprechen wir von nachhaltiger Entwicklung der Gesellschaft und nachhaltiger Entwicklung des Wirtschaftswesens.

STANDARD: Ist das nicht ein Widerspruch?

Wagner: Nein, das widerspricht sich nicht. Nachhaltige Entwicklung beruht auf dem Dreisäulenmodell der ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit und ist ein Versuch der Integration dieser drei Komponenten. Das heißt natürlich auch, Gerechtigkeit innerhalb der Generationen zu schaffen und Gerechtigkeit für die Nachwelt zu schaffen.

STANDARD: Wäre Wirtschaftswachstum als Staatsziel sinnvoll gewesen?

Wagner: Das Anliegen, das im Juni 2017 im Raum stand, ein weiteres BVG (Bundes-Verfassungsgesetz, Anm.) Wirtschaftswachstum einzuziehen, ist sinnleer. Wir haben bereits ein Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum, zur ökonomischen Entwicklung im Verfassungsrang – nämlich zu einer nachhaltigen Entwicklung. Auch wenn ein derartiges Staatsziel verankert worden wäre, hätte das nicht die Wirkung, die der Initiativantrag beabsichtigt hätte. Nachhaltigkeit birgt ein Bekenntnis zu einer ökonomischen Entwicklung, die zugleich aber eine ökologische ist, in sich. Über diesen Umstand könnte sich auch ein Staatsziel Wirtschaftswachstum nicht hinwegsetzen.

STANDARD: Steht das Staatsziel Nachhaltigkeit in Konkurrenz zu anderen Gesetzen?

Wagner: Das ist natürlich möglich. Es gibt zahlreiche Causen, wo das Staatsziel etwa bei einer Abwägung verschiedener öffentlicher Interessen herangezogen wurde – und in die eine Richtung, aber auch in die andere Richtung ausgeschlagen hat. Es gibt auch Urteile, in denen der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen hat, das Staatsziel sei in die Abwägung einzubeziehen, aber sein Gewicht sei in den Fällen nicht so groß, dass das Projekt deswegen zu versagen sei.

STANDARD: Wie sieht das im Fall der dritten Flughafenpiste aus?

Wagner: Im Urteil um die dritte Piste hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass die öffentlichen Interessen im Luftfahrtgesetz einen abschließenden Katalog darstellen. Der Verfassungsgerichtshof meint, dass nur die zum Zeitpunkt der Entstehung des Luftfahrtgesetzes intendierten öffentlichen Interessen maßgeblich wären. Durch das BVG Umweltschutz sei dieser Interessenkatalog in der maßgeblichen Abwägungsfrage nicht erweitert worden. Es gebe quasi einfache Gesetze, die gegen verfassungsmäßige höherrangige Interessen abgeschirmt seien – eine Art staatszielresistentes Recht. Man könnte hier freilich die Frage stellen, inwiefern Gesetze, die höherrangige Interessen nicht einmal in eine Abwägung hineinlassen, überhaupt verfassungskonform sind.

STANDARD: Kann Nachhaltigkeit rechtlich eingegrenzt werden?

Wagner: Wir benötigen auf jeden Fall noch viel konkretere Gesetze, was den Klimaschutz betrifft. Infrastrukturgesetze und Materiengesetze haben den Aspekt des Klimaschutzes als Dimension des Umweltschutzes beispielsweise noch nicht explizit – und damit rechtssicher – in ihrem Anwendungsbereich. Da kann und muss man an neuen Instrumenten arbeiten. Es soll nicht jedes Infrastrukturprojekt wegen der bestehenden Rechtsunsicherheit bis zum Verfassungsgerichtshof getrieben werden, andererseits sollen klimarelevante Voraussetzungen die Nachhaltigkeit der Projekte sichern.

STANDARD: Wer vertritt dabei die Umwelt?

Wagner: Aufgrund der Aarhus-Konvention kann sich die Öffentlichkeit an umweltrelevanten Entscheidungsprozessen beteiligen. Der Europäische Gerichtshof judiziert im Sinne dieser Konvention – und die Urteile gegen alle Mitgliedsstaaten nehmen zu. Sie ist ein gemischtes Abkommen, das von der EU und den Mitgliedsstaaten gemeinsam ratifiziert wurde. Die Konvention zielt darauf ab, den Bürger zum Fingerzeiger im Hinblick auf Umweltinteressen zu machen.

STANDARD: Funktioniert das?

Wagner: Im Allgemeinen schon, aber in Österreich ist die Konvention – außer im Umweltverträglichkeitsprüfungsrecht und im Industrieanlagenrecht – noch nicht umgesetzt.

STANDARD: Was erhoffen Sie sich in puncto Umweltschutz von der nächsten Regierung?

Wagner: Ich würde mir eine Regierung wünschen, die sich zur Nachhaltigkeit als Staatsziel aktiv bekennt und noch mehr jener Vorhaben umsetzt, die mit den 17 Sustainable Development Goals korrespondieren. Das BVG Nachhaltigkeit soll als Handlungsauftrag eine aktive Weiterentwicklung sicherstellen. Abzuwarten und negative Entwicklungen bloß zu kompensieren ist zu wenig. (Nora Laufer, 13.10.2017)