Wissenschafter Josef Seethaler: "Demokratische Macht legitimiert sich nicht durch Erbfolge oder Autorität, sondern durch Öffentlichkeit."

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Im Mai 2017, als der Beschluss zu Neuwahlen fiel, sah die österreichische Bevölkerung (laut Eurobarometer-Umfrage) das Land mit zwei vorrangigen Problemen konfrontiert: Immigration und Arbeitslosigkeit. Jene 31 Prozent, die in der Immigration das wichtigste nationale Problem sehen, und jene 26 Prozent, für die es die Arbeitslosigkeit ist, haben in ihrem persönlichen Leben jedoch ganz andere Probleme: In beiden Gruppen, die sich nur zu einem Viertel überschneiden, kämpfen mehr als 40 Prozent mit den steigenden Preisen, und um die 20 Prozent fürchten um soziale Sicherheit und gesundheitliche Versorgung.

Die persönliche Erfahrung mit Immigranten oder Arbeitslosigkeit spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle, um diese beiden Themen als die vorrangigen Probleme des Landes wahrzunehmen. It's the economy, and it's also social security, stupid! Wer Angst vor wirtschaftlichem und/oder sozialem Abstieg hat, verliert Vertrauen in sich selbst, sieht sich gefährdet, arbeitslos zu werden, und neigt dazu, Schuldige dafür auszumachen.

In einer repräsentativen Demokratie, wie sie in den meisten westlichen Verfassungen festgeschrieben ist, delegieren die Bürgerinnen und Bürger die Verantwortung für die Lösung kollektiver Probleme an politische Vertretungsorganisationen, vor allem an Parteien. Ihre Aufgabe ist es, die persönlichen Sorgen der Menschen aufzugreifen und mit politischen – im Falle der beiden gegenwärtigen Hauptprobleme: mit ökonomischen und sozialpolitischen – Konzepten zu beantworten. Diese Konzepte sollten zur Wahl stehen und dem Wahlergebnis entsprechend von Parlament und Regierung umgesetzt werden.

Medien als Marktplatz der Ideen

Die Medien spielen in diesem Szenario eine wichtige Rolle. Sie stellen Öffentlichkeit her sowohl für die Anliegen der Bevölkerung als auch für die Konzepte der Parteien und die Aktivitäten von Parlament und Regierung. Als "Marktplatz der Ideen" sind sie das Forum für eine pluralistische Debatte und machen damit gleichzeitig Politik transparent und kritisierbar. Demokratische Macht legitimiert sich nicht durch Erbfolge oder Autorität, sondern durch Öffentlichkeit. Dadurch sollen Verantwortlichkeiten benannt und ein Systemversagen rechtzeitig verhindert werden können. Demokratie ist nicht so blauäugig zu glauben, dass Eigennutz, Machtmissbrauch und Korruption je ausgeschlossen werden könnten.

Dennoch ist die repräsentative Demokratie nur eine von mehreren möglichen demokratischen Ausprägungen. Schon seit der griechischen Antike steht ihr die Idee einer partizipatorischen Demokratie gegenüber, die anstelle des Delegierens von Verantwortung darauf setzt, die Interessen der Menschen direkt in politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einzubinden. Aufgabe der Medien ist es hier, die Zugangsbarrieren zur Teilhabe am politischen Leben zu senken und die Bürgerinnen und Bürger zu motivieren und zu befähigen, sich über Wahlen hinaus aktiv in gesellschaftliche Diskurse und politische Gestaltungsprozesse einzubringen.

Eingeübte Handlungsmuster

Dieses Verständnis von Demokratie wird durch den seit längerem anhaltenden Wertewandel gestützt und tritt neben die repräsentativen Strukturen. An die Stelle der früher ungefragt geteilten, in den weltanschaulichen "Lagern" tradierten Werte treten individuelle Vorstellungen von einem selbstbestimmten, im Einklang mit der sozialen und materiellen Umwelt stehenden Leben, die mit dem "klassischen" Links-rechts-Schema nicht mehr übereinstimmen. Mit der steigenden Skepsis gegenüber den althergebrachten Werten werden aber auch die sie tragenden Institutionen infrage gestellt. Um sich unter den veränderten gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen zu behaupten, müssten sie auf Input "von unten" hören. So wünscht sich der Politikwissenschafter Colin Crouch einen "lebhaften, chaotischen und lauten Kontext von Bewegungen und Gruppen" als Nährboden für sich revitalisierende Parteien.

Allerdings verharren diese in ihrem Repertoire eingeübter Handlungsmuster – seien es Imagekorrekturen, (fragwürdige) Wahlkampftaktiken, die Straffung von Führungsstrukturen oder Richtungskämpfe – und verlieren massiv an Vertrauen in ihre Problemlösungskompetenz. Kaum ein Drittel der österreichischen Bevölkerung vertraut den Parteien, gerade 40 Prozent der Regierung; bei jenen, die Angst vor wirtschaftlichem und sozialem Abstieg haben, sind es noch weniger. Das trägt zu Politikverdrossenheit, Anfälligkeit für einfache Parolen und Protestwahlverhalten bei, unterstützt von einer an Wettkämpfen, "Duellen", Skandalen und vermeintlich punktgenauen "Sagern" interessierten Medienberichterstattung.

Nicht nur demokratische Verantwortung sondern auch Chance

Dabei hätten die journalistischen Medien hier nicht nur eine demokratische Verantwortung, sondern eine Chance. Ihre Vertrauenswerte liegen höher als für Parteien und Regierung: bei 55 Prozent für die Presse, bei fast zwei Dritteln der Bevölkerung für Radio und Fernsehen. Sie könnten Aufmerksamkeit und Verständnis für Probleme, ihre vielfältigen Hintergründe und Kontexte erzeugen, Lösungsmöglichkeiten zur Diskussion stellen und den Menschen (nicht zuletzt mithilfe von Social-Media-Aktivitäten) Optionen eröffnen, Verantwortung für die Gestaltung des gemeinsamen Lebensraums zu übernehmen – insgesamt also eine positive Identifikation mit einer lebendigen Demokratie ermöglichen. In welchem Ausmaß haben Sie das, sehr geehrte Leserin und sehr geehrter Leser, in diesem Wahlkampf bemerkt? (Josef Seethaler, 9.10.2017)