"Was für ein ahnungsloser Idiot." Ich würde derlei nie laut über einen Kollegen sagen. Auch dann nicht, wenn es stimmt – und ich weiß, dass der, der da zur Expertise anhebt, keinen Tau von dem hat, worüber er labert: Leute, die, egal was, nur aus der TV-und-Couch-Perspektive kennen, sich oft für befugt und qualifiziert halten, über die Leistung anderer zu reden – und zu urteilen. "Zwei Stunden und drei Minuten für einen Halbmarathon, und sie strahlt? Geh bitte: In der Zeit rennen andere den ganzen Marathon!"

Es war am Montag. Kolleginnen und Kollegen, die meine Freundin nicht einmal kennen, deponierten Ferngratulationen. Doch einer nahm mich an der Kaffeemaschine zur Seite.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich hatte sofort gewusst, was kommen würde. Genau dieser Satz: "In der Zeit rennen andere doch …" Der Mann kommt nicht einmal ein Stockwerk ohne zu schnaufen hoch – und meinte es gar nicht böse. Diskutieren? Erklären? Anpöbeln? Sinnlos.: Inhale – exhale. Weitergehen. Außer Sichtweite die Augen verdrehen.

Minuten später kam eine Mail. Eine Dritte hatte die Szene mitbekommen: "Was für ein ahnungsloser Idiot." Exakt. Denn: Ich bin stolz. Richtig stolz. Und das #proudboyfriend lass ich mir nicht kaputtreden: Meine Freundin ist am Sonntag in Köln ihren zweiten Halbmarathon gelaufen. 14 Tage nach ihrem ersten. Sie kam mit einem fetten Grinsen ins Ziel. Nur das zählt. Dass sie – nebenbei und ungeplant – ihre Wachau-Zeit gleich um fünf Minuten unterbot und unter den knapp 6.188 Frauen beim Kölner Halbmarathon als 1.813. über die Ziellinie lief? Superfein – aber doch ein Nebengeräusch.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber der Reihe nach. Denn diese Geschichte beginnt früher – und anderswo: im Juli in Irland. Dorthin hatte mich Rene Bauer, der Österreich-Repräsentant des US-Laufschuhherstellers "Saucony", im Sommer mitgenommen. Zum "Race to Kinvara", einem Staffellauf von Dublin nach ebendorthin. Als wir da nass, frierend und glücklich zwischen Regen, Hagel und Sonnenschein unsere Etappen runterwuzelten, hatte Bauer irgendwann gesagt: "Wisst ihr was? Wir laufen auch in Köln." Saucony ist dort einer der Hauptsponsoren. Drei Telefonate später war es fix: Startplatz und Hotel würden gestellt – die Anreise wäre selbst zu bezahlen. Ob ich meine Freundin – auf eigene Kosten, versteht sich – mitnehmen dürfe? "Ein zweites Handtuch im Hotel sollte sich im Budget gerade noch ausgehen. Und auf eine Startnummer mehr kommt es wohl auch nicht an."

Foto: Thomas Rottenberg

Vor allem dann nicht, wenn man ohnehin einen Schüppel Händler, Athleten, Markenbotschafter, Journalisten, Laufseitenmacher, Blogger und andere "Influencer" nach Köln geladen hat. Und man diesen Leuten am Tag vor dem Lauf ein buntes PR- und Entertainmentprogramm präsentiert: Vor zwei Jahren hat man sich noch gewundert, als bei einer Schuhpräsentation eines anderen Herstellers in London ein paar "Stars" der Laufschreiberei tatsächlich vor dem präsentierten Schlapfen auf die Knie gegangen waren (natürlich nur für Fotos …) und beim Abendessen über mutmaßliche Vor- und Nachteile des Schuhs richtig böse in Streit geraten waren. Heute aber lege ich dieses "Folge dem Schuh"-Phänomen in die "Es gibt bedenklichere Marotten"-Kiste – und knie mit.

Foto: Thomas Rottenberg

Es tut dennoch gut, wenn derlei von normalen Menschen relativiert wird. Etwa als ich sah, wie meine Herzdame staunend feststellte, dass es außer mir da draußen tatsächlich noch Spinner gibt, die noch gar nicht käuflich erwerbbare Laufschuhe ehrfürchtig von Hand zu Hand gehen lassen. Die sie kneten und biegen, drücken und drehen. Und dann lange und ernsthaft während einer Logo-Spray-Aktion debattieren können, ob und wie sinnvoll es ist, Modelle in etlichen – und natürlich gegenderten – Farbnuancen auf den Markt zu bringen: Für Hersteller ist dieses Feedback relevant – auch wenn Laufschuhveteranen wie Tony Nagy ("Tony’s Laufshop") hier vermutlich die Krise bekommen hätten: Nagy stand dazu, Kunden aus seinem Laden zu werfen, wenn sie fragten, ob es ein Modell auch in einer anderen Farbe gäbe. "Verlangen Sie auch in der Apotheke Medikamente in ihren Lieblingsfarben?", lautete sein Standardsatz an dieser Stelle des Beratungsgesprächs. Aber: Nagy ist seit Jahren in Pension – und Laufschuhe gibt es heute eben in bunt: Tempora mutantur.

Foto: Thomas Rottenberg

Doch allein mit Produktthemen füllt man keinen Meinungsmachertag: Man braucht auch Geschichten. Heldenepen. Das ist mit einer der Gründe, warum große Marken Athleten brauchen: Als Vortragende über sich selbst, ihr Leben und ihre Leidenschaft erreichen sie auch Menschen, die sonst kaum zur Marke fänden. Aber die Assoziationskette funktioniert.

Denn Gastgeber hin, Marke her: Man muss kein Triathlet sein, um die Geschichte von Andreas Niedrig spannend zu finden. Wie einer vom Junkie zu einem der erfolgreichsten Triathlonsportler Deutschlands werden konnte, wie er aus eigener Kraft – und ohne anderen die Schuld für seinen Absturz zu geben – von ganz unten nach oben arbeitete und sich, das vor allem, sein Leben und seine Familie zurückholte, ist mehr als beeindruckend.

Foto: Thomas Rottenberg

Stimmt schon: Andere mögen auch Dinge geschafft haben. Aber: Einem erfolgreichen Sportler hört man eben zu – und lernt, sich eine Scheibe davon abzuschneiden: "Wenn der sowas schafft – schaffe ich meine Alltagsprobleme wohl auch."

Niedrig ist heute als Motivationsreferent gut gebucht. Von Schulen ebenso wie von Unternehmen oder Profi-Fußballclubs. Und obwohl ich schon etliche seiner Kollegen gehört habe, hat mich kaum einer so "erwischt" wie Niedrig. Auch weil ich seinen Zugang, Laufen als "Metapher fürs Leben" zu nehmen, unterschreibe. Ganz nebenbei mag ich die Art, wie er etwa das legendäre Hummel-Paradoxon aus den 1930er-Jahren präsentierte. Dass Niedrig dabei nicht aufklärt, dass die Wuchtel, wonach Aerodynamiker berechnet hätten, dass Hummeln in der Theorie unmöglich fliegen können können und dies nur tun, weil sie die Gesetze der Physik nicht kennen, unvollständig – oder nur eine Legende – ist, stört mich nicht. Darum geht es nicht: Denn der Triathlet macht Mut. Mut an sich selbst und an Träume zu glauben – nur das ist wichtig.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber eigentlich waren wir ja gekommen, um zu laufen. Eh "nur" den halben Marathon. Ganz ehrlich? Noch am Samstagabend waren Eva und ich alles andere als sicher, ob wir überhaupt starten würden. Und falls doch, ob wir nicht nach drei oder vier Kilometern drauf pfeifen würden: Gegen das Kölner Samstagswetter waren Wind, Hagel und Regen in Irland ein Kindergeburtstag gewesen. Hätten wir – wie viele andere – wochen- oder monatelang auf diesen Lauf hintrainiert, wäre das natürlich was anderes. Aber: Wenn man einfach nur einen netten Wochenendlauf plant und keinem was beweisen muss, muss man sich nicht vom Wetter quälen lassen. Oder?

Doch als wir uns am Sonntag auf den Weg zum Start machten, stellte sich diese Frage nicht mehr: Das Wetter war ein Läufertraum. Frisch – aber trocken und sonnig. In der Früh natürlich "knackig" – aber: Das gehört eben dazu.

Foto: Thomas Rottenberg

Den Stadtmarathon gönnt sich Köln seit 1997. Die Halbdistanz – also die große Volksdistanz – kam erst 2006 dazu. Mit über 15.000 Halb- und etwas mehr als 6.000 Volldistanz-Marathonis ist der Event mittlerweile Deutschlands fünftgrößter Lauf. Auch weil da noch 800 Staffeln à vier Nasen und 1.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen am "Schülerlauf" (am Tag zuvor) dazukommen: Knapp 25.000 Läufer "spürt" jede Stadt. Rund um den Lauf. Aber auch – und ganz besonders – beim Start.

Ohne Gedränge und Warten geht es da auch in Köln nicht. Aber ein strenges Startreglement und eine trotz freundlicher Höflichkeit fast preußisch anmutende Disziplin der Stewards und Helfer macht es allen leichter. Sie ahnen, was kommt? Genau: mein Lamento, endlich auch beim Wiener Stadtmarathon für Volksläufer Bedingungen zu schaffen, die dem Standard eines international ernstzunehmenden Laufes gerecht werden – und den Ruf der Stadt nicht beschädigen. Denn Köln schafft, woran Wien seit Jahren scheitert – und Läufer reisen. Und reden miteinander.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Halbmarathon startet in Köln um 8.30 Uhr. Das hat nicht nur den Vorteil, dass man am Weg zum Start einen Hammer-Sonnenaufgang erlebt, danach nicht komplett unterschiedliche Bewerbe und Laufmuster miteinander in Konflikt geraten und die Strecke dann nicht überfüllt ist: Es ermöglicht den Volldistanzläufern (Start ist um 10 Uhr) nebenbei auch zu einer (halbwegs) vernünftigen Zeit zu frühstücken.

Während in Wien rund 22.000 Starter (Voll- und Halbdistanz plus Staffeln) über die sechs Spuren der Reichsbrücke binnen 15 Minuten auf den Weg geschickt werden, um sich nach dem Praterstern auf der Hauptallee auf einem Drittel der Streckenbreite zu vereinen, dauert allein der Start der ersten Hälfte von 15.000 Halbmarathonis in Köln schon viel länger: Eva war – vollkommen zu Recht – dem vierten von sieben oder acht Startblöcken zugeteilt worden. Der erste Block lief um 8.30 Uhr los. Wir kamen um 8.53 Uhr über die Startlinie – und konnten praktisch von Anfang an flüssig laufen.

Foto: Thomas Rottenberg

Unter anderem deshalb, weil man – wie der Platzsprecher mehrfach erklärte – den Start bewusst als Flaschenhals angelegt hatte: Der Startbogen ist richtig schmal – dann wird der Weg breiter. Und zwar so lange, bis sich die Blöcke auseinandergezogen haben. In Wien passiert das Gegenteil: Da wird es nach drei Kilometern kuschelig eng. Außer man kommt früh in den Prater – etwa weil man sich in den falschen Startblock stellt und losrennt wie eine gesengte Sau.

In Köln wird Startblockhopping (nach vorn) bestraft. Nicht so streng wie beim Frauenlauf in Wien (dort wird mittlerweile beinhart disqualifiziert), sondern mit Zeitstrafen: Fünf Minuten gibt es fürs Starten im falschen Block. Technisch ist das keine Hexerei: Köln arbeitet mit dem gleichen Zeitnehmer wie der Vienna City Marathon. Man muss halt wollen.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber zurück an den Rhein. Wir hatten uns vorgenommen, den Lauf einfach zu genießen: Eva hatte 14 Tage zuvor in der Wachau ihren allerersten Halbmarathon hingelegt. Ganz abgesehen davon, dass sie in den beiden Wochen danach kaum Zeit zum Laufen gehabt hatte, sind 21 Kilometer im Wettkampfmodus etwas, was Beine, Muskeln und Kopf verarbeiten müssen: Wenn man sich gut fühlt und gesund ist, sind längere Läufe in Serie kein Problem. Beim "echten" Marathontraining gehören Longjogs schließlich auch zum Standardprogramm. Aber für (relative) Laufanfänger baut schon die Atmosphäre eines Wettkampfes oft Spannungen und Druck auf, die einen auch killen können. "Macht euch einfach einen schönen Lauf", hatte mir Harald Fritz, mein Coach, mit auf den Weg gegeben.

Foto: Thomas Rottenberg

Genauso hatten wir es auch angelegt: Ganz ohne Druck. Ein schöner Genusslauf durch eine Stadt, die wir beide nicht wirklich kennen. Wenn es läuft, läuft es – und wenn nicht, dann eben nicht: Dass Eva Halbmarathon "kann", hat sie in der Wachau ja schon eindrucksvoll bewiesen – und zwar mit einer Zeit, die sie vor allem sich selbst nie und nimmer zugetraut hätte.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber: Es lief. Gut. Verdammt gut. Schon beim Start hatte ich gesehen – aber wohlweislich nicht angesprochen –, dass meine Freundin in der Wachau schnell und viel gelernt hatte: Hatte sie Gedränge, Warten und kollektive Nervosität vor 14 Tagen noch zappelig und nervös werden lassen, war davon in Köln nicht mehr viel zu spüren.

Hatten ihr in der Wachau aktives wie passives knappes Auflaufen echte Probleme gemacht, ließ sie sich hier dadurch kaum irritieren – schnitt oder behinderte aber dennoch keine anderen Läufer.

Foto: Thomas Rottenberg

Hatten sich vor 14 Tagen die Lücken, durch die ich sie zu ziehen versucht hatte, oft vor ihr wieder geschlossen, weil sie nicht eng genug an mir klebte, war das diesmal kaum ein Thema. Und obwohl wir die Pace zu Beginn bewusst sehr niedrig angesetzt hatten, liefen wir bald konstant Kilometerzeiten unter sechs Minuten. Bei Kilometer sieben – einem Drittel der Strecke – überschlug ich kurz im Kopf: Eva lief schön, gleichmäßig und rund. Ein paar Passagen, in denen ich bewusst in einen Bereich beschleunigt hatte, der eigentlich unter "viel zu schnell" firmiert, steckte sie weg, ohne richtig zu merken, wie schnell wir gerade waren. Sollte ich es riskieren – und meine Freundin auf die Zwei-Stunden-Marke hetzen?

Foto: Thomas Rottenberg

Andererseits: Cui bono? Das sind nur Zahlen. Und mit ein bisserl Übung und Erfahrung, ausgeruht und nur einem Hauch System im Training knackt Eva diese Mauer irgendwann mit Leichtigkeit. Sollte ich also wirklich riskieren, das Lächeln, das seit dem Start in Evas Gesicht stand, erstarren zu lassen? Genuss und Leichtigkeit durch Druck und Pressen ersetzen? Noch dazu mit einer Risikoprognose: 14 Kilometer sind lang. Erst recht auf einer Strecke, die man nicht kennt. Und ganz besonders, wenn man sich weder im Kopf noch in den Beinen auf die Jagd nach irgendeiner (eh sinnfreien) Grenze vorbereitet hat.

Ein Blick zur Seite: Eva strahlte. "Mir geht es super!" Ich strahlte zurück – und ging vom Gas.

Foto: Thomas Rottenberg

Köln zu laufen ist – ein bisserl – wie Berlin. Denn Köln ist stolz auf seinen Status als "Partystadt. Auch wenn ich mit "Hellau" und "Alaaf" genau gar nix anfangen kann: Beim Laufen von Bands, Passanten, Familien und konfettiwerfenden Gruppen und "Einzeltätern" an der Strecke aufgemuntert zu werden kann was. Und auch das war ein Detail, das mir zeigte, dass Eva sich wohlfühlte: In der Wachau war alles, was neben der Strecke geschah (eh nicht so viel), als Irritation wahrgenommen worden. Hier lachte meine Herzdame: "Wow, ich bin jetzt schon das zweite Mal mit Glitzerstaub beworfen worden – sind wir jetzt alle Einhörner?"

Foto: Thomas Rottenberg

Die Party in Köln kann echt was: Natürlich sind es – gerade in der Früh, bevor der Hauptbewerb durch die Straßen rollt, vor allem Freunde und Verwandte, die hier als Unterstützer dabei sind. Aber: Sie sind da. Und das nicht nur einmal: Das Schild mit dem Schaf für die – mir vollkommen unbekannte – Sarah sah ich mindestens vier Mal an der Strecke. Und alle freuten sich drüber. Auch das gehört zu den Details einer intelligenten Streckenführung eines echten Volkslaufes: Wenn ich meine Freunde entlang der Strecke öfter sehe, bin ich weniger allein. Das spornt Läuferinnen und Läufer an – und motiviert Begleitpersonen, ihr Supportrennen durch die Stadt ebenfalls mit Inbrunst zu betreiben.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf die "Klassiker" darf da natürlich nicht vergessen oder verzichtet werden. Das "Abklatschen" entlang der Strecke. Eine ebenso sinnfreie wie nette Spielerei, die insbesondere Kindern Spaß zu machen scheint. Auch wenn ihre Mienen manchmal – im Nachhinein und auf den Fotos – nicht so wirken, als wüssten sie wirklich genau, wieso sie da stehen und ihre Pfote in die Strecke strecken. Aber das Patschpatschpatschpatsch lässt sie dann doch immer wieder strahlen. Und den Läuferinnen und Läufern, die mitspielen, macht es ja auch Spaß.

Foto: Thomas Rottenberg

Köln hat aber auch eine Besonderheit, die ich anderswo bisher noch nie gesehen habe: einen "Spendenbogen". Ob man da durch- oder daran vorbeiläuft, ist jedem und jeder freigestellt. Die Zeitnehmungsmatte unter dem Bogen wird nämlich nicht zur Zeiterfassung herangezogen – sondern für Charity-on-the-Run. Da die Chipnummern jeder Startnummer eindeutig zuordenbar sind, lässt sich so auch erkennen, wer damit einverstanden ist, dass ihm drei Wohltätigkeitseuro von der Kreditkarte abgebucht werden. Wenn nur ein Drittel der Läuferinnen und Läufer da mitmacht, kommt schon eine Menge Geld zusammen.

Foto: Thomas Rottenberg

Köln ist auch ein Kostümlauf. Sagt man. Aber auch wenn wir vor und nach dem Lauf etliche Einhörner, Supermänner, Krokodile, Enten und Clowns sahen, war der Fasching in unserem unmittelbaren Lauf-Umfeld eher auf Sparflamme unterwegs.

Mit dieser einen großen Ausnahme. So ganz nebenbei brach der "Argentinier" aber auch die Rennregeln ganz offensichtlich. Die Teilnahme mit Kinderwägen ist offiziell ausdrücklich verboten. Nur sind Regeln das eine – sie dort, wo es Sinn macht und niemanden stört oder gefährdet, weit auszulegen, das andere: Kein einziger Streckenposten machte Anstalten, den Mann mit dem Kind aus dem losen Pulk zu fischen. – Stattdessen wurde auch von den Stewards gejubelt und angefeuert.

Foto: Thomas Rottenberg

Und Eva? Die lief wie ein Uhrwerk neben mir her. Lachend. Fröhlich. Stark. Ein einziges Mal – etwa einen Kilometer vor dem Ziel – glaubte ich kurz, dass es da eine Krise geben könnte: Da flog uns der Führende der Vollmarathonstrecke entgegen – und ich zeigte hinüber: "Schau, der Führungswagen!" Eva wäre fast stehen geblieben: "Was, wir müssen diese Schleife nochmal rennen? Ich will nimmer! Ich trab jetzt nur noch aus!" Der Vorteil des Gepaced-Werdens: man muss sich um nix kümmern und schaltet auf Autopilot. Der Nachteil: Wenn man eine Info falsch verarbeitet und die nicht zum subjektiven Empfinden passt, kann einem das viel zusammenhauen: Eva hatte nicht an die Volldistanzläufer gedacht – und die Vorstellung, jetzt nochmal umzudrehen und wieder vom Dom, der schon hinter den Häusern zu sehen war, wegzulaufen, war da leicht frustrierend.

Aber: Zwei Ecken weiter war er da. Der Dom. Und eines wusste, spürte und hörte hier jeder: eine Linkskurve noch – und dann die Zielgerade.

Foto: Thomas Rottenberg

Auf dem Weg zum Ziel sieht und hört man dann alles und nichts zugleich. Da gibt es nur noch Lachen und Freude – und das Wissen, dass es jetzt gleich vorbei ist. Egal, ob man drei, zehn, 21 oder 42 Kilometer gelaufen ist. Egal, ob schnell oder langsam. Egal, ob bei Sonne oder bei Schneesturm. Und egal, was die Uhr oben auf dem Bogen sagt: Sie zeigt ja ohnehin nur die Zeit des Siegers an – und kaum jemand hat jetzt noch die Nerven, da Brutto und Netto auseinanderzurechnen: ankommen. Strahlen. Endlich mit dem Laufen aufhören können. Und: Stolz sein. Alles andere ist jetzt egal.

Foto: Thomas Rottenberg

In der Wachau ging es Eva nach dem Zieleinlauf nicht sooo super: Sie war über Stress, Angst, Schmerzen, Hunger und Durst drübergelaufen – und hatte sich nur ein einziges Mal von mir zwingen lassen, zu essen und zu trinken. Nach der Ziellinie war dann alles über sie hereingebrochen. Das ist ganz normal – daraus lernt man.

Hier in Köln hatte sie dazugelernt: Essen, trinken, entspannen, auf Signale des Körpers hören, fließen und fliegen statt drücken und drängen. Sie strahlte. Die Zeit war nur die Zugabe: 2:03:19. Sie war stolz – und auch sprachlos: "Ich habe nicht geglaubt, dass ich das kann. Nicht heute. Nicht so." Mir fiel Andreas Niedrig ein. Seine Geschichten von Hummeln, vom Wollen, vom Träumen – und vom Stolzsein.

Am Montag stand ich dann in Wien an der Kaffeemaschine. Und der Couchpotatoe redete blöd. Inhale. Exhale. Was für ein ahnungsloser Idiot. (Thomas Rottenberg, 4.10.2017)


Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Start und Aufenthalt in Köln waren eine Einladung von Saucony.


Epilog: Sonntagabend, beim Heimflug, kam die Keule.

Eine Aussendung des Veranstalters: Ein Läufer war bei Kilometer elf kollabiert und trotz funktionierender Rettungskette im Spital verstorben. Aus Rücksicht auf die Angehörigen und wegen der ärztlichen Schweigepflicht gibt es dazu keine weiteren Informationen. Ich kannte den Mann nicht. Aber meine Gedanken sind bei seiner Familie.


Weiterlesen:

Von der Vermessung des Laufens: Der Garmin Dynamics Pod

Das 20. und das erste Mal: Der Wachau-Marathon

Foto: Thomas Rottenberg