Projektinitiator Sergej Kanowitsch auf dem jüdischen Friedhof in Seduva: 800 Grabsteine sind wieder freigelegt.

Foto: Andreas Stangl

Seduva einst und heute: Äußerlich hat sich nicht viel verändert. Doch die ehemaligen Bewohner wurden im August 1941 innerhalb von zwei Tagen bis auf wenige Ausnahmen ermordet.

Foto: Seduva Jewish Memorial Fund
Foto: Andreas Stangl

Seduva ist eine Kleinstadt in Nordlitauen. Bis 1941 war sie eines jener unzähligen jüdischen Schtetl im weitläufigen östlichen Grenzland Europas, deren Welt heute nur mehr in den Büchern von Isaac B. Singer oder Scholem Alejchem oder in den Gemälden von Marc Chagall oder Jakob Steinhardt existiert.

Die alten Holzhäuser sehen noch immer so aus wie auf den alten Fotografien aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Die früheren Bewohner sind verschwunden. Wenn man genau hinsieht, sind an den Türrahmen noch die Löcher zu sehen, wo einst die Mesusa Bewohner vor Unheil schützen sollte. 1941 haben die Mesusot auf fatale Weise versagt.

Auf einem sanften Hügel außerhalb der Stadt liegt der jüdische Friedhof. Dort, wo noch vor wenigen Jahren nur einige Stolpersteine aus dem Gestrüpp ragten, liegt heute ein luftiges Areal mit 800 minutiös freigelegten und wiederaufgestellten Grabsteinen.

Zentrum der Erinnerung

Das ist das Verdienst von Sergej Kanowitsch und seiner Privatinitiative "Lost Shtetl". Mit seiner Hilfe und jener eines internationalen Teams soll die entrückte Welt des Schtetls für kommende Generationen zum Teil erlebbar, teils virtuell wieder zugänglich werden.

Das Ziel ist, Seduva zu einem weltweiten Zentrum der Erinnerung an das Phänomen Schtetl zu machen. Neben dem Friedhof soll ein modernes Museum inklusive Dokumentationszentrum über das einstige jüdische Kleinstadtleben entstehen. Die Eröffnung ist 2019 geplant, bis zu 50.000 Besucher pro Jahr erhoffen sich die Projektbetreiber.

Sergej ist der Sohn des Romanciers Grigori Kanowitsch, einem hochbetagt in Israel lebenden Chronisten des einstigen Schtetllebens und dessen Zerstörung. Finanziert wird das Projekt durch Spenden von Nachkommen ehemaliger Bewohner der Stadt, seit 2012 kümmert sich der Seduva Jewish Memorial Fund um die Realisierung von Sergej Kanowitschs Idee. Unbestimmt heißt es, das Projekt solle "einige Millionen Euro" kosten. Im Budget vorgesehen ist auch eine Filmdokumentation mit dem Arbeitstitel "Petrified Time" (dt. "Versteinerte Zeit").

Das erste der insgesamt sieben Hauptvorhaben war die Restauration des Friedhofs. Rund die Hälfte der Grabsteine konnten bisher identifiziert werden. Reichere Schtetlbürger hatten Geld für Sarkophag und Grabstein, die ärmeren mussten mit halbierten oder gar geviertelten Mühlsteinen vorliebnehmen. Die Fragmente von 500 weiteren, unleserlichen Grabsteinen liegen in einem Lapidarium am Rand des Friedhofs.

Wiederbelebung

"Wir wollen das Leben auf den Friedhof zurückbringen", sagt Sergej. Lost Shtetl solle jedoch keineswegs ein auf Totengedenken fixiertes Projekt sein. Der Tod gehört freilich dazu. Beinahe das gesamte jüdische Leben in Seduva wurde im August 1941 auf brutale Weise ausgelöscht.

Deutsche Soldaten und einheimische Kollaborateure – darunter bisherige Nachbarn – erschossen in nur zwei Tagen 664 Menschen. Heute stehen bei den drei im Wald verborgen liegenden Massengräbern vom litauischen Bildhauer Romas Kvintas geschaffene Mahnmale. Bei allen dreien liegen frische Blumen.

Schulamit Noll entkam damals, indem sie sich zwischen die von Kugeln Getroffenen fallen ließ. Sie floh, nachdem sich die Mörder entfernt hatten, um sich zu betrinken. Der katholische Pfarrer von Seduva verpasste ihr eine Nottaufe und brachte sie gemeinsam mit einem weiteren Juden, der in der Kirche Schutz gefunden hatte, bei einer litauischen Bauernfamilie unter.

Beide überlebten Naziherrschaft und Krieg. Frida, eine andere ehemalige Bewohnerin, floh mit ihrer Familie schon vor dem Eintreffen der Wehrmacht, geriet letztlich aber doch in deutsche Hände. Sie wurde von britischen Soldaten im Frühjahr 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit.

Einen ihrer Befreier erkannte sie fast 40 Jahre später im Fernsehen wieder. Es war der frisch gewählte Staatspräsident Israels, Chaim Herzog. Er hatte sie bei der Befreiung aus dem KZ angesprochen, weil ihm ihr schönes litwakisches Jiddisch aufgefallen war. Lebensgeschichten wie diese sollen dank Lost Shtetl im Gedächtnis der Allgemeinheit bleiben.

Kollektiver Schuldkomplex

Zum Projekt gehört auch das Denkmal für alle einst in Seduva lebenden Juden – die Statue eines Mädchens, das mit traurig gesenktem Blick auf dem Hauptplatz der Stadt steht. Das nebenstehende Gebäude, ein ehemaliges jüdisches Gasthaus, harrt, mustergültig renoviert, einer neuen Verwendung. Nebenbei erhielt die kleine Provinzstadt übrigens auch eine moderne Krankenstation – eine seltene Errungenschaft im heutigen Baltikum, wo die Gesundheitssysteme in den vergangenen Jahren drastisch reduziert wurden.

Mit derartigen Goodwill-Aktionen ist es den Lost-Shtetl-Machern gelungen, die Einheimischen für das Projekt zu gewinnen. Das war nicht einfach, denn das Land leidet angesichts der verdrängten Beteiligung der litauischen Bevölkerung am mörderischen Treiben der Nationalsozialisten heute noch an einer Art kollektivem Schuldkomplex. "Viele junge Litauer wissen nicht einmal, was ein Jude ist", sagt Faina Kukliansky, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Vilnius. Dabei galt Wilne, so der jiddische Name der litauischen Hauptstadt, über Jahrhunderte als das Jerusalem des Nordens.

Auswanderungswelle

Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1941 lebten in Litauen rund 220.000 Juden. Rund 90 Prozent von ihnen wurden innerhalb weniger Wochen ermordet. Am Ende der Sowjetzeit, zu Beginn der 1990er-Jahre, lebten in dem baltischen Staat immerhin noch etwa 20.000 Juden. Heute sind es zwischen 3000 und 5000, Tendenz weiter sinkend.

Der Rest ist in den vergangenen Jahrzehnten ausgewandert – vorwiegend nach Israel, in die USA und nach Südafrika. Betagte Heimkehrer gab es, anders als etwa in Wien, so gut wie keine. Dennoch erschien vor zehn Jahren in Vilnius noch die weltweit einzige Zeitung, in der man Artikel auf Jiddisch lesen konnte. Mangels Finanzierung und angesichts rapide schwindender Leserschaft ist diese mittlerweile eingestellt.

Anders als in Seduva, wo noch eine ansehnliche Zahl einstmals jüdischer Holzhäuser steht, die der Stadt zumindest optisch immer noch einen Hauch von Schtetl verleihen, muss man seine Fantasie im ehemaligen Ghetto von Vilnius wesentlich stärker bemühen.

Im Hinterhof eines unscheinbaren Häuserblocks in der Vokieciu gatve (Deutsche Straße), dort wo sich einst die im frühbarocken Stil errichtete Große Synagoge und der "Schulhoyf" mit der weithin gerühmten Straschun-Bibliothek befanden, liegt nunmehr ein dunkler Park und ein in der Sowjetzeit errichteter, verwahrlost aussehender Kindergarten. Das Areal war bis zur Zerstörung des Ghettos im Zweiten Weltkrieg dicht bebaut und durchzogen von Gassen und Durchgängen, deren Namen heute keiner mehr kennt.

Einzigartigkeit

Weltweit bemühen sich einige Institutionen und Stiftungen um die Erhaltung des geistigen Erbes der ostjüdischen Welt. Dennoch hebe sich Lost Shtetl von allen anderen Initiativen ab, sagt Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Chefkuratorin der ständigen Sammlung des Jüdischen Museums in Warschau. Weil es eine unabhängige Privatinitiative sei, würden viele Hindernisse eines öffentlich finanzierten Projekts vermieden. Zudem sei es abseits urbaner Zentren und aus breiterer Perspektive heraus entstanden und daher "in seiner Vielseitigkeit einzigartig".

Als Inspiration für Seduva diente Sergej Kanowitsch ein Zitat aus dem zuletzt erschienenen Roman seines Vaters, "Kaddisch für mein Schtetl": "Fortan wird dieses zugrunde gerichtete Volk nur noch im wahrhaftigen, aus Leiden erwachsenen Wort wieder auferstehen und weiterleben in der unvoreingenommenen Erinnerung, in der niemand den ewigen Widerhall der Liebe und Dankbarkeit für unsere Vorfahren zum Schweigen bringen kann." (Andreas Stangl, 30.9.2017)