Mit "to come (extended)" eröffnete die dänische Choreografin Mette Ingvartsen den Steirischen Herbst.

Foto: Wolf Silveri

Graz – Auf Kritik der sozialen und sexuellen Pornografisierung des Global Village ist die Brüsseler Choreografin Mette Ingvartsen (37) spezialisiert. Also hat die renommierte Künstlerin zur Eröffnung des Steirischen Herbsts aus einem kleinen Frühwerk von 2005 ein halbimmersives Event für die Grazer Helmut-List-Halle gezaubert: to come (extended).

Wer dieses auf Ambivalenz ausgerichtete Vergnügen jetzt versäumt hat, hat Anfang Oktober die Chance im Pariser Centre Pompidou, später an der Berliner Volksbühne. Und weil der Titel so sexy klingt, gleich vorab der Hinweis auf die höhepunkthafte Hauptspeise dieser Show: eine köstliche Leiche – mit speckigen Füßen, gleichermaßen fruchtiger wie käsiger Mitte und fischigem Kopf -, aufgeschnitten zur dekadenten Jause in Form eines Buffets. Angerichtet war das Mahl auf einer gut zehn Meter langen Tafel, die nach einer Tanzvorspeise feierlich auf die Bühne geschoben wurde. Zum Dessert gab's ein Konzert der Bläser-Elektroniker Die Vögel.

Choreografisch liegt das Hauptgewicht auf der Vorspeise, dem ursprünglichen Stück to come. Dieses hatte einst fünf Tänzer, in der erweiterten Version treten fünfzehn auf. Sie alle tragen zu Beginn strahlend blaue Ganzkörperanzüge und formen immer wieder sich verändernde Tableaux vivants aus sexuellen Posen. Die Komplettverhüllung der Körper allerdings blockiert diese Porno-Allegorie für allzu direkte Assoziationen. Ähnlich dämpfen in der Folge ein nüchterner Lustlaute-Chor und ein unbefangen nackt getanzter Gruppen-Lindy-Hop eindeutige Erwartungen.

Scheinbare Freundlichkeit

Diese Dreiteiligkeit ihres alten Stücks hat Ingvartsen auf die "extended"-Version gespiegelt. Deren essbare Buffet-Leiche entspricht der "petite mort" des Stöhnchors von to come, und das Konzert von Die Vögel, bei dem das Publikum selbst tanzt, hat seine Entsprechung im populären Lindy Hop.

Die scheinbare Freundlichkeit dieses Events birgt einige Schärfen. Anfangs strapazieren die ausgedehnten Sexposen der Blue-Screen-Gestalten die Geduld des Publikums, dann wird dieses mit der Ironie des nachgemachten Pornofilmgestöhns ins Zwielicht des eigenen Voyeurismus geführt. Dafür friert die Choreografin den netten Lindy Hop zwischendurch einmal in unheimlicher Verdunkelung und Verlangsamung beinahe zur Gänze ein.

Der leibliche Buffetgenuss kommt als Übersetzung des "kleinen Todes" in einem Aufschnitt daher, der an Filme wie Das große Fressen oder, wie eine Besucherin meinte, Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber denken lässt. Schließlich wird das Abshaken des Publikums beim Die-Vögel-Auftritt von einem aufwendigen Lichtertanz begleitet, der mehr sagt als die übliche Lightshow: Während die Körper sich zur Musik wiegen, tanzen die computergesteuerten Lichtmaschinen ihren eigenen, bei näherem Hinsehen einigermaßen abgründigen "Robo-Hop".

Vermenschlichte Geräte

Weniger diskret passiert Ähnliches auch in Simon Mayers Tanzstück Oh Magic. Da tritt ein Scheinwerfer als Tanzroboter auf – neben einem ferngesteuerten Mikrofon, einem selbstspielenden Flügel und einem automatischen Triangelspiel. Diese neue Arbeit des oberösterreichischen Choreografen wurde am Wochenende vom Steirischen Herbst im Grazer Dom im Berg erstmals hierzulande gezeigt. Mitte Oktober wird sie auch in Wien zu sehen sein.

Bei Oh Magic kämpfen eine Frau und drei Männer als wüste Band mit den Tricks der Vermenschlichung von Geräten. Auch sie ziehen sich die Kleidung von den Leibern – als Ausdruck der Krise des Körpers in Zeiten des Posthumanismus. Ein starkes Statement mit viel Witz und einigem Technik-Schamanismus. (Helmut Ploebst, 25.9.2017)