Nachbarn und Kriegsveteranen, geeint in der Ablehnung der "Jim-Crow-Gesetze": Garrett Hedlund (li.) und Jason Mitchell in Dee Rees' elegischem Südstaatenfamiliendrama "Mudbound".

Foto: Tiff

Fotografien eines Mannes mit festem Blick, dazu künstliche Harfenklänge, dann ein Satz: Ohne ihn gäb's kein TIFF. Der Mann mit Vollbart heißt Bill Marshall, es handelt sich um den am Neujahrstag dieses Jahres verstorbenen Gründer des Filmfestivals Toronto, dem man mit diesem Video vor jedem Screening gedachte.

Was einem dabei noch einmal ins Auge springt: wie jung diese Veranstaltung ist. 1976 gegründet, darf sie sich heute das größte Filmfestival Nordamerikas nennen. Ein Boomevent mit unübersichtlich vielen Programmschienen und dem ambitionierten Anspruch, die nächsten Monate im Kino mitzuformulieren.

Die Wege, wie ein Film zu Aufmerksamkeit und Wertschätzung findet oder nur oft verkauft wird, sind vielfältig. The Shape of Water, Guillermo del Toros romantische Reminiszenz an Creature from the Black Lagoon, hat der Preis in Venedig viel Rückenwind eingebracht. Mudbound, inszeniert von der schwarzen Regisseurin Dee Rees, war schon im Jänner in Sundance die Sensation. Die Rekordsumme von 12,5 Millionen Dollar hat die Streamingplattform Netflix für das Südstaatendrama hingelegt. Bei TIFF wurde es nun nochmals mit einer Gala gewürdigt: ein klares Indiz dafür, dass man es für den Oscar in Stellung bringt.

"Mudbound" – Trailer
moviemaniacsDE

Nach dem rassistischen Terror von Charlottesville kommt Mudbound wie ein historisches Fanal daher. Dee Rees erzählt von zwei Familien, die in den 1940er-Jahren dasselbe unwirtliche Schlammland von Mississippi zu bewirtschaften versuchen. Die eine ist weiß, die andere schwarz, und das Bemerkenswerte an dem Film, wie elegant und elegisch die Perspektiven zusammenfinden. Dee Rees beschreibt Personen, die das Produkt ihrer Zeit sind. Mancher blickt ein wenig weiter als der andere, kaum einer jedoch riskiert, gegen die "Jim-Crow-Gesetze" zu verstoßen. Die Schieflagen dieses nachbarschaftlichen Verhältnisses sind durch Unterscheidungen bestimmt, gegen die man persönlich nicht ankommt.

Eine entscheidende Rolle spielt der Zweite Weltkrieg, in den jeweils ein Sohn jeder Familie zieht. Paradox, aber stimmig, wie die beiden als Soldaten an Weltläufigkeit gewinnen: Sie kommen als heimatlose Helden zurück, und ihre Ablehnung der Gemeinde, deren Rassismus, ist stärker denn je. Mudbound entwirft sein Drama episodisch, aber mit Blick aufs Ganze, in kräftigen Farben; wie eine Faust in den Magen wirkt der Moment, wenn die Gegenreaktion folgt. Das Unversöhnliche steht dem Film besonders gut.

Geschichte bot dieses Jahr in Toronto bei etlichen Prestigeproduktionen den Hintergrund. Bei Darkest Hour von Joe Wright zum Beispiel, einem eher konventionellen Kammerspiel der politischen Mehrheitsfindung mit Gary Oldman als Winston Churchill, einem aussichtsreichen Anwärter auf zukünftige Filmpreise. Dieser hat zwar einen "personal make-up artist" in den Credits, aber nicht das Doppelkinn ist hier so entscheidend, vielmehr das Bauchgefühl des Britstars. Er verkörpert den Premier als so trinkfesten wie schnodderigen Einzelgänger, der sich gegen ein Kabinett aus "Peacemakers" durchsetzen muss, notfalls cholerisch.

Die Front der Frauen

Eine abgeschiedene Front eröffnet Xavier Beauvois' Drama Les Gardiennes, der auf die Seite der Frauen wechselt, die während des Ersten Weltkriegs in den Bauernhöfen dafür sorgen, dass es weiterhin Ernte gibt. Nathalie Baye ist großartig als resolute Hausherrin, eine Entdeckung die junge Iris Bry als Magd, die sich ins Herz der Familie arbeitet, bis sie verraten und geopfert wird.

Beauvois, der 2010 mit Von Menschen und Göttern begeisterte, inszeniert sein Drama gemessen und klassisch, jedoch ungemein subtil in den szenischen Auflösungen. Solche Filme haben es mittlerweile schwer, in großen Festivalwettbewerben zu landen, weil sie nicht plakativ auf Autorenkino zugespitzt sind.

Das ist bei aller Markthektik in Toronto einer der Vorteile dieses Festivals: Es macht den Blick frei für Filme, die einfach für sich selbst stehen. Auch I Love You, Daddy vom Stand-up-Comedian Louis C. K. ist dafür ein Beispiel. Er spielt einen TV-Autor, dem eines Tages nichts mehr gelingt – in Schwarz-Weiß gedreht, mit Anleihen an klassisches Hollywood, Privatneurosen als Draufgabe und John Malkovich als schmierigem Aufreißer. Wirklich lustige Sache. (Dominik Kamalzadeh aus Toronto, 16.9.2017)