Höflichkeit in vielen Sprachen.

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Identität, Kultur und Kommunikation: All das beinhaltet Sprache. 6.500 Sprachen werden weltweit gesprochen, und jede davon hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Gepflogenheiten und ihre eigene kulturelle Prägung. Der Europäische Tag der Sprachen rückt die sprachliche und kulturelle Vielfalt in den Mittelpunkt, an diesem Dienstag wird er gefeiert. Ein Anlass, Mehrsprachigkeit in der Reihe "User fragen, Experten antworten" in den Fokus zu rücken.

Die Sprachwissenschafterin Zwetelina Ortega beantwortet Ihre Fragen über die Flexibilität Mehrsprachiger, das Einleben in mehrere Kulturen, lückenhafte Sprachsysteme und das Prestige einer Sprache. Ausgewählt hat die Fragen aus den STANDARD-Foren des Blogs Linguamulti Judith Handlbauer.

Judith Handlbauer: Häufig hört man von Menschen, sie seien sprachbegabt oder eben nicht. Gibt es überhaupt eine spezielle Begabung, die das Erlernen von Sprachen erleichtert?

Zwetelina Ortega: Spracherwerb ist eine individuelle Entwicklung, doch es gibt Fähigkeiten, die das Erlernen einer Sprache erleichtern, wie zum Beispiel ein gutes Gefühl für Melodie und Rhythmik.

Ich glaube aber, User "Nintje" beschreibt ein Phänomen, das bei jüngeren Geschwisterkindern auftritt. Untersuchungen zeigen, dass die erstgeborenen Kinder in ihrer Zweisprachigkeit effizienter sind und auch die schwächere Sprache, die nicht in der Umgebung gesprochen wird, besser erwerben als jüngere Geschwister. Gründe dafür sind, dass die Eltern mit dem ersten Kind mehr sprechen, es bekommt die volle Aufmerksamkeit, dadurch ergeben sich mehr Gesprächssituationen als beim zweiten oder dritten Kind. Und es kommunizieren die Kinder untereinander meist in ihrer stärkeren Sprache, in unserem Fall Deutsch. So beobachtet man oft, dass sich die Zweitgeborenen schwerer tun mit ihrer Zweisprachigkeit, aber nicht, weil sie weniger begabt sind.

Handlbauer: Würden Sie diesem User zustimmen? Wie wichtig ist die Modellfunktion für Kinder beim Erlernen der Umgebungssprache? Wie wichtig ist das Beherrschen der Muttersprache für das Erlernen einer anderen Sprache?

Ortega: Ich würde dem User so weit zustimmen: Eltern sollten mit ihren Kindern immer in der Sprache kommunizieren, in der sie sich am wohlsten fühlen, sonst würden sie dem Kind eine lückenhafte Basis einer Sprache mitgeben. Studien zeigen, wenn Eltern in einer für sie fremden Sprache mit ihren Kindern kommunizieren, beeinflusst es langfristig die Eltern-Kind-Bindung negativ, da sie ihre Emotionen dann nicht so gut ausdrücken können. Es stimmt aber auch, dass es sich positiv auf das Kind auswirkt, wenn es sieht, dass die Eltern sich bemühen, die Umgebungssprache zu lernen. So wird die Umgebungssprache positiv konnotiert, und das motiviert das Kind, sie ebenfalls zu lernen.

Das Kind sollte eine solide Basis in seiner Muttersprache haben, um noch weitere Sprachen erfolgreich erlernen zu können. Wenn das Kind zwei Sprachen gleichzeitig erwirbt, kann es für Außenstehende so wirken, als ob es in der Sprachentwicklung langsamer sei als einsprachige Kinder. Das liegt daran, dass es sich in zwei Sprachsystemen gleichzeitig zurechtfinden und diese aufbauen muss. Diesen vermeintlichen "Rückstand" gegenüber den Einsprachigen holt es jedoch meistens im Volksschulalter wieder auf. Ich würde aber davon abraten, zweisprachige und einsprachige Kinder miteinander zu vergleichen, denn ihre Sprachentwicklung ist einfach anders. Wenn man anfängt zu vergleichen, zeigen sich auch Defizite bei Einsprachigen gegenüber Zweisprachigen, zum Beispiel sind sie in ihrer Kommunikation lange nicht so effizient. Dieses gegenseitige Aufwiegen hilft keinem weiter.

Handlbauer: Inwieweit hängen kognitive Fähigkeiten und Wahrnehmung mit der Sprache zusammen? In der öffentlichen Diskussion heißt es häufig, Migrantenkinder hätten Defizite bei der Sprachbeherrschung. Wie ist Ihre Wahrnehmung? Worauf muss bei der Sprachvermittlung geachtet werden?

Ortega: Durch unsere Sprache oder Sprachen nehmen wir die Welt wahr, und gerade Mehrsprachige zeigen hierbei eine kognitive Flexibilität. Dazu ist eine Perfektion in der Sprache nicht erforderlich. Durch die doppelte sprachliche Sozialisation zeigt sich, dass Kinder viel dynamischer und flexibler mit Sprache umgehen. Das wirkt sich positiv beim Erlernen weiterer Sprachen, aber auch beim Kommunizieren allgemein aus. Sie haben auch ein ausgeprägteres Verständnis von Sprache in unterschiedlichen Kontexten. Die Idee von dem Bilingualen, der perfekt ist in zwei Sprachen, ist ein Geist und stammt von Menschen, die nicht selbst mehrsprachig sind oder sich damit nie positiv erlebt haben. Perfektion ist nicht notwendig, sondern Freude an der Sprache und Kultur. Was also hilft, ist es, dem Kind keinen Druck zu machen und ihm die Möglichkeit einzuräumen, die Sprachen in kulturellen Kontexten zu erleben.

Handlbauer: Ist bei mehrsprachigen Kindern eine Entwicklungsverzögerung in anderen Bereichen, etwa dem motorischen, zu bemerken? Gibt es dazu Studien?

Ortega: Wenn ein Kind intensiv damit beschäftigt ist, simultan zwei Sprachen zu erwerben, können dadurch andere Bereiche wie der motorische in den Hintergrund rücken. Das holt das Kind jedoch mit der Zeit wieder auf, sobald es in seiner Sprachentwicklung einen Sprung gemacht hat. Das kann übrigens auch bei einsprachigen Kindern beobachtet werden.

Das Kind des Users "El Chó" verinnerlicht nicht nur zwei Sprachsysteme, sondern auch zwei Kulturen. Das macht ihn einerseits anders als die anderen Schüler, gibt ihm aber auch die Möglichkeit, sich in zwei Kulturen einzuleben. Und gerade das ist die vielgerühmte interkulturelle Kompetenz. Gerade jetzt ist es wichtig, dem Kind diesen Mehrwert zu signalisieren und ihm den Rücken zu stärken, da es in Zukunft viele Vorteile mit dieser Kompetenz haben wird.

Handlbauer: Übernehmen Kinder Fehler in der Sprache und den Akzent ihrer Eltern, wenn diese sie nicht muttersprachlich sprechen? Was ist bei einer mehrsprachigen Erziehung wichtig?

Ortega: Kinder übernehmen das Sprachsystem der Eltern. Wenn dieses Lücken aufweist, weil es nicht deren Muttersprache ist, nimmt das Kind sie natürlich ebenfalls auf. Das führt dazu, dass sich das Kind später schwertut, weil es diese Fehler beheben muss. Es ist aber nicht unmöglich.

Viel schlimmer ist, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kind langfristig negativ beeinflusst werden kann. Stellen Sie sich vor, Sie müssen Ihrem Kind ein Vorbild sein und es in einer Sprache durchs Leben führen, die Sie selbst lückenhaft sprechen und Ihr Kind viel besser als Sie spricht. Dabei kommen die natürlichen Rollen durcheinander. Außerdem können die Eltern ihre Werte und Emotionen nicht so gut ausdrücken, wie sie es in ihrer Muttersprache könnten. Und das ist wichtig für die gesamte Prägung und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.

Eltern sollten konsequent in der Sprache sprechen, die sie am besten können. Das Kind lernt die Umgebungssprache durch seine, wie der Name schon sagt, Umgebung: Kindergarten, Krabbelstube, Schule, Nachmittagsbetreuung tragen dazu bei, die Sprache früh genug erlernen zu können.

Handlbauer: Überspitzt formuliert es User "not in kansas anymore", aber kann man in der gesellschaftlichen Akzeptanz einen Unterschied zwischen den Sprachen festmachen? Oder spielen bei der Bewertung von Sprache wirtschaftliche Faktoren eine Rolle, wie User "Martin Müller10" glaubt?

Ortega: Leider ist es so, dass manche Sprachen ein höheres Prestige genießen als andere. Das hängt vor allem davon ab, wie die Gruppe der Sprecher in der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wird. Sind die Sprecher wirtschaftlich schwach, verrichten sie niedrigqualifizierte Jobs, entsteht eine negative Konnotation zu ihrer Sprache.

Das ist aber je nach Gesellschaft unterschiedlich und verändert sich auch mit der Zeit. Das Prestige einer Sprache ist meist höher, wenn das Land, in dem sie gesprochen wird, wirtschaftlich stark ist, wie zum Beispiel Englisch. Aber auch, wenn in der Mehrheitsgesellschaft positive Konnotationen vorherrschen, zum Beispiel für Spanisch und Portugiesisch. Sie werden in Österreich mit Urlaub, gutem Essen, einer vielseitigen Kultur assoziiert.

Man darf aber nie vergessen, dass jede Sprache, egal wie hoch das Prestige in dem jeweiligen Land ist, für den einzelnen Sprecher wichtig ist. Sie ist Teil der Identität des Individuums. Und es kann die kindliche Entwicklung knicken, wenn das Kind ständig spürt, ein Teil von mir ist weniger wert. Für das Individuum ist die Sprache sogar von sehr hohem Wert, und das ist wichtiger als jeder Wirtschaftsfaktor.

Handlbauer: Was hat es mit dem Phänomen des Sprachswitchens auf sich? Warum machen das mehrsprachige Menschen häufig?

Ortega: Dieses Phänomen nennt man in der Sprachwissenschaft "Code Switching", und es bedeutet, dass mehrsprachige Menschen innerhalb eines Satzes oder einer Aussage zwischen zwei oder mehreren Sprachen wechseln. Der User "INTJ" behauptet, die Jugendlichen wüssten sich nicht anders zu helfen, doch das stimmt meistens nicht. Sie könnten sehr wohl in einer Sprache weitersprechen, das tun sie aber nicht, weil sie wissen, ihr Gegenüber wird die komplexen Inhalte, die durch das Switchen mittransportiert werden, verstehen. Die Kommunikation gewinnt so an Möglichkeiten und Strategien, und es können zusätzliche Inhalte transportiert werden. Es geht also meist nicht aus einem Defizit hervor, außer bei viel jüngeren Kindern.

Code Switching, das hier als negativ abgetan wird, ist ein vielschichtiger Prozess und funktioniert nur, wenn eine Person mehrere Sprachsysteme bedienen kann. Zu sagen, dass eine Person sich "noch nicht einmal vernünftig einsprachig" verständigen kann, ist eine monolinguale Perspektive. Wenn Kinder keine Sprache richtig können, so hat das nichts mit Code Switching zu tun. (Judith Handlbauer, 26.9.2017)