Susanne Billig
Die Karte des Piri Re'is
Das vergessene Wissen der Araber und die Entdeckung Amerikas
C. H. Beck 2017
303 Seiten, 19,40 Euro

C. H. Beck

Wien – Im November 2014 sorgte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wieder einmal für einige Irritationen. Diesmal ging es aber eher um ein Nischenthema. Bei einem Gipfel mit Muslimen aus Lateinamerika in Istanbul vertrat er die originelle These, dass muslimische Seefahrer Amerika im Jahr 1178 und damit 314 Jahre vor Kolumbus "entdeckt" hätten. (Die Anführungszeichen sind mittlerweile zumindest im Westen üblich, weil auf dem Doppelkontinent bereits seit rund 15.000 Jahren Menschen lebten.)

International sorgte Erdoğans Sager für einiges Kopfschütteln. Wollte er damit nun sogar die Entdeckergeschichte islamisch umschreiben? Zwar geht man in der Geschichtswissenschaft davon aus, dass vor dem Seefahrer aus Genua der Isländer Leif Eriksson in Nordamerika gelandet war. Doch von präkolumbischen Seefahrern aus dem arabischen Raum ist in den einschlägigen Geschichtsbüchern keine Rede.

Erdoğans seriöse Quelle

Wenige Tage nach seiner Rede in Istanbul legte Erdoğan die Quellen für seine Behauptung offen, und darüber wurde im Westen nur mehr sehr selektiv berichtet: Er berief sich vor allem auf den türkischen Orientalisten Fuat Sezgin, seines Zeichens angesehener, mehrfach ausgezeichneter und längst emeritierter Professor für die Geschichte der Naturwissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Der heute 92-Jährige, der als international anerkannter Experte der islamischen Wissenschaftskultur gilt, gründete an der Uni Frankfurt am Main ein Institut für die Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften und trug eine weltweit einzigartige Sammlung von historischen wissenschaftlichen Instrumenten sowie von Karten aus dem arabischen Raum zusammen. Zudem gründete er in Istanbul ein Museum der arabischen Wissenschaft.

Autor zahlreicher Standardwerke

Vor allem ist er Autor einer 15-bändigen "Geschichte des arabischen Schrifttums", ein Standardwerk, das er zwischen 1967 und 2010 veröffentlichte. Deren jüngere Bände ab dem Jahr 2000 befassen sich schwerpunktmäßig mit der erstaunlich weit fortgeschrittenen Kartografie und Geografie im arabischen Raum. Und darin vertritt Sezgin die These, dass die Araber nicht nur wichtige Vorarbeiten zu den großen Entdeckerfahrten von Kolumbus und Kollegen leisteten, sondern schon früher in Amerika gelandet waren. (Für ein Exzerpt daraus siehe die Linkliste am Ende dieses Artikels.)

Aufbereitung der wichtigsten Erkenntnisse

Da Sezgins Arbeiten außerhalb der Fachkollegenschaft wenig bekannt sind, hat sich die deutsche Wissenschaftsjournalistin Susanne Billig der Aufgabe unterzogen, seine wichtigsten Erkenntnisse in einem Buch aufzubereiten, das dieser Tage unter dem Titel "Die Karte des Piri Re'is" erschien. Der Fokus liegt dabei auf Sezgins "Spätwerk" – also auf seiner Erforschung der astronomischen, nautischen, geografischen und kartografischen Kenntnisse der arabischen Welt des Mittelalters.

Eigenständige Weiterentwicklungen

Auf Basis von Sezgins Arbeiten kann die Autorin anschaulich vermitteln, dass die islamischen Gelehrten in dieser Zeit nicht nur die Bewahrer des wissenschaftlichen Wissens der Antike waren, was heute als allgemein akzeptierte Tatsache gilt. Anhand zahlreicher Belege, die Sezgin zusammengetragen hat, macht sie klar, wie die Araber diese Erkenntnisse vor allem auf der Iberischen Halbinsel eigenständig weiterentwickelt haben.

Im Schlussteil des Buchs geht Billig dann ausführlich auf die von Sezgin rekonstruierten Beiträge der arabisch-islamischen Wissenschaft zu den großen Entdeckungsreisen ein. Nachvollziehbar ist die "schwächere" These Sezgins, wonach die Europäer bei ihren Seefahrten auf das nautische und kartografische Wissen der Araber zurückgriffen.

Indizien für die starke These

Doch sind die Araber vor Kolumbus selbst über den Atlantik gesegelt? Auch dafür hat Sezgin zahlreiche Indizien gesammelt. Er findet sie etwa auf der Karte des türkischen Admirals Piri Re'is aus dem Jahr 1513. Ihre bereits extrem genaue Beschreibung Südamerikas deutet laut Sezgin darauf hin, dass der Kartograf damals arabische Quellen hatte, denn es sind darauf Gegenden der Südostküste Südamerikas detaillierter dargestellt, als man damals "offiziell" hätte wissen können.

Die auf 1513 datierte und erst 1929 wiederentdeckte Karte des türkischen Admirals Piri Re'is gibt ob ihrer detailreichen Darstellung Südamerikas (links unten) Rätsel auf. Für Fuat Sezgin legt sie frühe arabische Reisen nach Amerika nahe.
Foto: Bilkent-Universität

Diese legendäre Karte, die heute im Topkapi-Palast in Istanbul aufbewahrt wird, war freilich bereits Gegenstand zahlloser Spekulationen, und sogar Erich von Däniken wollte an ihr außerirdisches Wissen (etwa über die Antarktis) festmachen.

Sezgins Interpretationen haben zwar einiges für sich, doch auch er kann damit nicht restlos überzeugen. Er führt aber noch weitere Hinweise für seine "starke" These an, wie die Karten des Alberto Cantino (1502) oder des Juan de la Cosa (1500), in die für Sezgin ebenfalls arabisches Wissen eingeflossen sein muss. Zudem nennt er einige schriftliche Quellen, die arabische Expeditionen über den Atlantik plausibel machen, auch wenn dabei unklar bleibt, was die Araber dabei überhaupt angetrieben hat.

"Ein vorsichtiges 'Höchstwahrscheinlich'"

Nichtsdestotrotz sind die Indizien zweifellos diskussionswürdig und fanden auch in der Fachwelt einige Resonanz. Einen eindeutigen Beweis kann Sezgin freilich nicht vorlegen, dass Muslime vor Kolumbus die Neue Welt betreten haben, auch wenn im Buch gleich mehrfach das Wort "höchstwahrscheinlich" verwendet wird – gleich zu Beginn übrigens ist originellerweise von einem "vorsichtigen 'Höchstwahrscheinlich'" die Rede.

Um auch hier an den Anfang zurückzukommen: Staatspräsident Erdoğan hat im November 2014 zwar einen seriösen Wissenschafter zitiert, aber eben dann doch nicht ganz seriös und richtig. Susanne Billig hätte aber gut daran getan, diese Vereinnahmung Sezgins durch Erdoğan – und damit den eminent politischen Kontext dieser Debatte – nicht völlig zu verschweigen. (Klaus Taschwer, 30.8.2017)