Am Montag konnte Harald Rother die Tränen dann doch nicht mehr zurückhalten. Daran ist nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Als vor ziemlich genau zwei Wochen die E-Mail von Helmut Baudis beim STANDARD eintrudelte, mussten auch hier einige Leute schlucken. Und als ich Helmut Baudis die Kontaktdaten von Harald Rother schickte, hatte ich feuchte Augen – und war auch ein bisserl stolz. Obwohl ich nichts anderes getan hatte, als eine Geschichte zu erzählen: die Geschichte von Harald Rother – einem Blinden, der auf der Prater Hauptallee mit dem Blindenstock läuft.

Daran, dass Helmut Baudis sie gelesen hatte, hatte ich keinen Anteil. Und daran, dass Baudis – der Generalsekretär des Österreichischen Leichtathletikverbandes (ÖLV) – dann von sich aus etwas tat, was niemand erwartet hätte, schon gar nicht: Baudis beschloss, Unrecht wiedergutzumachen. Sich für eine Kränkung zu entschuldigen. Und zwar bei Harald Rother.

Foto: Thomas Rottenberg

Harald Rother ist Läufer. Der heute 60-jährige, von Geburt an praktisch blinde Wiener ist schnell – und war das auch früher schon. Schneller als die meisten Sehenden. Nicht nur in der Theorie, sondern tatsächlich – und nachweisbar: 1975 war Rother Teil einer Staffel des WAC, die über 25 Kilometer Bronze holte. Nicht bei einem Dorflauf in Hintertupfing, sondern bei den Österreichischen Meisterschaften. Und: nicht in der Kategorie der "Behinderten", sondern im ganz regulären Bewerb. Weder an der Leistung noch an der Freude über den Erfolg hätte man einen Unterschied festmachen können.

Doch in den Augen der Funktionäre des Verbandes war hier Unerhörtes geschehen. Etwas, was nicht sein konnte, weil es nicht sein durfte: Behinderte in einem "regulären" Bewerb? Geht gar nicht! "Man richtete mir aus, dass das hier ja keine Behindertenveranstaltung sei und ich deshalb gar nicht hätte teilnehmen dürfen", erinnerte sich Rother in unserem ersten Gespräch. Die Strafe folgte auf den Fuß: Die WAC-Staffel schlitterte haarscharf an der Disqualifikation vorbei. Harald Rother durfte nicht aufs Stockerl und bekam auch keine Medaille. "Das waren die 70er-Jahre. Das tiefste Mittelalter."

Foto: www.hilfsgemeinschaft.at

42 Jahre später, 2017, las Helmut Baudis dann diese Geschichte. Und wollte das nicht so stehen lassen: "Das Vorenthalten der Meisterschaftsmedaille liegt weit vor meiner Zeit, trotzdem würde ich hier gerne Wiedergutmachung betreiben und dem Herrn Rother seine Medaille im Nachhinein verleihen", schrieb der Generalsekretär des ÖLV in einer kurzen Mail an den STANDARD – und fragte, ob wir ihn mit Harald Rother kurzschließen wollten oder könnten. Und wie wir wollten und konnten! Daran konnte auch der Kloß im Hals nichts ändern.

Foto: www.hilfsgemeinschaft.at

Der Rest ist relativ rasch erzählt – und doch eine wunderschöne Geschichte:

Am Montag gab es bei der HiIfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs, die Rother und mich für diese erste Geschichte zusammengebracht hatte, eine kleine, fröhliche Feier. Harald Rother strahlte. Er erzählte Anekdoten. Geschichten und Gschichterln. Und er kam aus dem Lachen kaum heraus.

Bis es dann ernst wurde: Georg Hartmann, ein Freund und Weggefährte von Harald Rother, hielt eine kurze Laudatio auf den blinden Läufer – und strich Rothers unverwüstlichen Glauben an das Gute und seine Fähigkeit, auf andere zuzugehen, ihnen ihre eigenen Potenziale zu zeigen und mit ihnen, aber nicht über sie zu lachen, hervor.

Foto: www.hilfsgemeinschaft.at

Und dann bekam Harald Rother seine Medaille. Mit 42 Jahren Verspätung. "Sie haben keine Vorstellung, wie viel mir diese Medaille bedeutet", sagt der 60-Jährige. Dann versagt ihm die Stimme. Und plötzlich wird allen Anwesenden klar, wie hart erkämpft Harald Rothers positive Lebenseinstellung ist: Nicht nur ihm kommen die Tränen.

Ich war am Montag nicht in Wien, hätte aber sicherlich auch geheult.

Ob ich stolz sei, Teil dieser Geschichte zu sein, fragte mich Montagabend dann ein Freund. No na. Nur: Ich habe nichts zu dem, was hier zählt, beigetragen – und bin vor allem dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die spüren, dass es auch 42 Jahre nach einer Kränkung und Ungerechtigkeit nicht zu spät ist, "Entschuldigung" zu sagen. Dankbar für den Mut und die Kraft, Fehler, die man nicht selbst gemacht hat und für die man selber nichts kann, aus der Welt zu schaffen.

Dankbar dafür, dass es Menschen wie Harald Rother gibt. Nicht nur weil es guttut, Menschen zu kennen, die trotz allem immer an das Gute und das Positive im Leben glauben. Sondern weil es auch Größe und Kraft braucht, diese Medaille ohne Verbitterung anzunehmen, wenn man sie nach 42 Jahren doch noch bekommt. (Thomas Rottenberg, 30.8.2017)


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