Der virtuelle Gegner reagiert auf die Bewegungen des Sportlers aus Fleisch und Blut und stimmt darauf sein Handeln ab.

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Hermann geht gern Rad fahren. Dann zieht er sich sein atmungsaktives Radfahroutfit an, schnürt sich die Fahrradschuhe, geht ins Arbeitszimmer – und schwingt sich in den Sattel. Wohin es geht, ist tagesabhängig. Zur Auswahl stehen eine Vulkanlandschaft, die fiktionale Insel Watopia, London oder die US-Stadt Richmond in Virginia. Auch wenn die Ziele exotisch klingen: Das Rennrad bleibt, wo es ist.

Es ist im Arbeitszimmer an einem smarten Rollentrainer befestigt, der über die Radfahr-App Zwift kontrolliert wird. Während Hermann sich zu Hause abstrampelt, bewegt sich ein von ihm gestalteter Avatar auf dem Fernseher vor ihm in der virtuellen Welt durch spektakuläre Landschaften. Geht es für den Avatar bergauf, dann wird das Treten auch für Hermann schwerer, bergab wird es dafür wieder leichter.

Von der Gruppe profitieren

Und weil Hermanns sportlicher Freundeskreis, allesamt Mitglieder im Wiener Arbeiter Turn- und Sportverein (WAT), mittlerweile auch in der virtuellen Welt unterwegs ist, strampelt er nicht allein, sondern begegnet dort auch seinen Freunden. Mit dem Zuruf "Ride on" feuert man sich gegenseitig an – und profitiert von der Gruppe, in deren Windschatten es sich leichter fährt. Auch Parameter wie Herzfrequenz und Geschwindigkeit werden auf dem Bildschirm angezeigt.

"Ein unglaubliches, realitätsnahes Fahrgefühl" sei das, erzählt Hermann, dem auf der virtuellen Strecke schon Radfahrer aus der ganzen Welt begegnet sind. Vom Radeln im Arbeitszimmer profitiere auch die körperliche Fitness, die heuer nach der Winterpause mit dem virtuellen Radfahrprogramm um einiges besser war als in den Jahren davor. Im Sommer, erzählt Hermann, gehe es dann natürlich lieber wieder hinaus ins Freie zum Radeln: "Aber wenn ich abends erst um neun heimkomme, ist das ein guter Ersatz."

Karate für die Wissenschaft

Während Hermann in seinem Arbeitszimmer schwitzt, ist die virtuelle Welt schon mehrere Schritte weiter: In Magdeburg tragen Karate-Athleten, die zwischen 14 und 18 Jahre alt sind, diese Tage eine klobige HMD-Brille und kämpfen gegen einen rein virtuellen Gegner. Das sieht lustig aus – und geschieht im Dienste der Wissenschaft: Die Sportwissenschafterin Kerstin Witte von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg forscht zur Antizipationsfähigkeit im Kampfsport und hat dafür mit der TU Chemnitz und dem Fraunhofer-Institut IFF Magdeburg einen Karate-Avatar zum Leben erweckt.

Der nichtreale Karatekämpfer reagiert auf die Bewegungen der Sportler und stimmt darauf sein Handeln ab. Von dem ungewöhnlichen Training sollen die Karateka profitieren: Sie sind schon vor einigen Monaten erstmals gegen den Avatar angetreten, in den nächsten Wochen sollen sie erneut gegen ihn kämpfen. Dann wird überprüft, wie sehr sich ihre Leistungen – die Reaktionsfähigkeit zum Beispiel – seit dem ersten Mal verbessert haben.

Training variieren

Für Prognosen dazu sei es noch zu früh, sagt Sportwissenschafterin Witte: "Aber ein solches Training macht auf jeden Fall Spaß." Witte glaubt aber auch, dass die Virtual Reality künftig eine sehr viel wichtigere Rolle für Leistungssportler spielen wird, besonders gut würden sich die Disziplinen Kampf- und Ballsport eignen.

"Dank Virtual Reality kann man im Training viel mehr variieren", sagt Witte. So könnten Trainer Avatare abhängig von den Trainingsbedürfnissen der Sportler zusammenbauen, etwa indem diese den realen Wettkampfgegnern ähneln und besonders groß oder besonders schnell sind. Derzeit sei das Verändern der Avatare zwar noch schwierig, räumt Witte ein, "aber das wird in ein bis zwei Jahren machbar sein".

Auch in manchen Fitnessstudios hält die virtuelle Realität Einzug. Ein Münchener Start-up hat das Fitnessgerät Icaros entwickelt, mit dem – ganz im Sinne der griechischen Mythologie – Sportler über einer virtuellen Landschaft schweben und dabei ihre Körperspannung trainieren. Das soll, glaubt man Erfahrungsberichten, ziemlich anstrengend sein.

Fliegen im Fitnessstudio

Abstürzen, so wie Ikarus in der griechischen Mythologie, kann man dabei aber nicht. Witte sieht in der reduzierten Verletzungsgefahr einen weiteren Vorteil der virtuellen Realität: "Man kann viel mehr ausprobieren und traut sich mehr, weil keine Gefahr besteht, dass etwas passiert." Daher sei ein solches Training auch für Hobbysportler sinnvoll.

Auch der Wiener Sportmediziner Robert Fritz von der Sportordination sieht in Hermanns Radfahren im Arbeitszimmer einen guten Zeitvertreib: "Jeder, der schon einmal am Ergometer gesessen ist, weiß: Das ist stinklangweilig", sagt er. Die Flucht in die virtuelle Realität sei daher eine "gute Motivationshilfe".

Auch als Vorbereitung für Wettkämpfe könne ein solches Training hilfreich sein: "Ein Wiener kann bei der Wettkampfvorbereitung nicht jede Woche auf einen Zweitausender radeln, mit dem Programm kann man den Körper aber sehr gut auf längere Bergetappen vorbereiten." Die Außenfaktoren am Berg – das Wetter und die Mitstreiter zum Beispiel – seien aber trotzdem andere, warnt der Sportmediziner. Davon abgesehen sei der Trainingseffekt der gleiche.

Verwirrung der Sinne

Bis das Sporteln mit der Virtual-Reality-Brille massentauglich ist, ist es aber noch ein weiter Weg: Noch gibt es viele Nutzer, die über die sogenannte Cyber-Sickness oder Virtuelle-Realitäts-Krankheit, also eine Verwirrung der Sinne, ähnlich der Übelkeit, die manche beim Autofahren befällt, klagen. "Das tritt auf, wenn die Technik noch nicht so gut ist", erklärt Witte: "Visuell wird einem etwas anderes vorgegaukelt, als die anderen Sinne wahrnehmen. Damit haben viele Menschen ein Problem." Wichtig sei daher eine gute grafische Qualität und dass der Avatar möglichst in Echtzeit auf den realen Athleten reagiert.

Typische Symptome für Cyber-Sickness sind Schwindel, Übelkeit und Erbrechen. Mit den Karateschülern habe es dieses Problem aber bisher nicht gegeben, sagt Witte. "Hilfreich wäre es aber natürlich, haptische Eindrücke zu bekommen." Daran werde bereits gearbeitet: Im Kampfsport gibt es mittlerweile Westen, die die Schläge des Gegners mittels Sensoren weitergeben – aber in geringerem Ausmaß, beruhigt Witte: Blaue Flecken würde es so nämlich keine geben. (Franziska Zoidl, 27.8.2017)