Patientenanwältin Sigrid Pilz und Ärztekammer-Vize Johannes Steinhart sind sich einig: Die Zweiklassenmedizin ist längst Realität.

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Sigrid Pilz: "Die Patienten haben das Gefühl, dass sie sich nicht mehr auf das System verlassen können."

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Johannes Steinhart: "Reformen mit der Brechstange führen zu Problemen."

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STANDARD: Wie geht es den Patientinnen und Patienten?

Pilz: Sonderklassepatienten können sich über Wartezeiten meist nicht beschweren. Für nur gesetzlich versicherte Patienten werden sie zunehmend zu einem Problem. Etwa für Patienten, die gerade einen Psychiater suchen und feststellen müssen, dass in Wien nur rund sieben Prozent einen Kassenvertrag haben. Auch der jungen Familie, die in ihrem Bezirk keinen Kinderarzt findet, geht es schlecht.

STANDARD: Wir haben also eine Zweiklassenmedizin?

Steinhart: Ja, die gibt es. Das Gesetz regelt, dass Krankenbehandlungen ausreichend und zweckmäßig sein müssen, aber das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. In Kassenpraxen gibt es oft Deckelungen, das heißt: Leistungen über einer gewissen Menge werden dem Arzt dann nicht mehr bezahlt. Diese Einschränkung kennt die Privatmedizin nicht. Wir von der Ärztekammer kümmern uns um die Krankenkassenmedizin. Es soll die Edelklasse geben für diejenigen, die sie sich leisten können. Aber jeder Mensch in Österreich soll die Medizin bekommen, die er braucht. Wir haben etwa jahrelang für Verbesserungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gekämpft und haben jetzt in Wien sechs Kassenstellen. Das ist für eine Millionenstadt nicht sehr aufregend.

STANDARD: Die Krankenkassen sagen, dass sich zu wenige Ärzte um Kassenordinationen bewerben und lieber Wahlärzte werden wollen. Stimmt das?

Steinhart: Früher war ein Kassenvertrag etwas Hochbegehrtes. Heute lehnen viele junge Kolleginnen und Kollegen unter den gegebenen Bedingungen einen solchen Vertrag ab und wollen dafür auch nicht mehr aufs Land ziehen.

STANDARD: Aber warum gibt es in den Großstädten unbesetzte Kassenstellen?

Steinhart: Neben den erwähnten Rahmenbedingungen sind ein Grund die hohen Immobilienpreise für neue und barrierefreie Ordinationen. Das kann sich ein Arzt mit einer kleinen Praxis nicht leisten.

Pilz: Die Patientinnen und Patienten haben Sorge, dass das Sachleistungsprinzip den Bach hinuntergeht. Ihnen wird häufig der Umweg über eine Privatordination empfohlen, damit sie schneller zu einer Untersuchung oder zu einem OP-Termin kommen. Die Patienten haben das Gefühl, dass sie sich nicht mehr auf das System verlassen können. Sie zahlen ihren Beitrag bei der Sozialversicherung und wollen dann im Krankheitsfall dafür auch bekommen, was ihnen zusteht. Manchmal muss heute die ganze Familie Geld zusammenlegen, damit sich die Mama, um die Wartezeit zu umgehen, eine Operation privat leisten kann.

STANDARD: Ist das solidarische System tatsächlich in Gefahr?

Pilz: Ich sehe es massiv bedroht. Wenn die Solidarität ins Rutschen kommt, werden wir die künftige Krankheitslast nicht bewältigen können. Wir werden älter, sind chronisch krank, unser System ist zu spitals- und arztlastig. Das geht sich langfristig nicht aus.

Steinhart: Wir müssen auf unser Solidarsystem sehr gut aufpassen. Die Krankenkasse wird sich auch bewegen müssen, denn es gibt auch Leistungen – wie zum Beispiel die Nuklearmedizin bei der Schilddrüse -, die sie bei den niedergelassenen Ärzten gar nicht bezahlt. Man könnte auch die ganze Diagnostik vor Operationen in der Praxis machen. Das würde Spitalstage und Kosten einsparen.

STANDARD: Zahlt die Krankenkasse den Ärzten zu wenig?

Pilz: Ich bin der Meinung, dass man für aufwendige Leistungen ordentlich bezahlt werden sollte. Wenn ein Arzt für die Versorgung einer Wunde 5,70 Euro bekommt, dann verstehe ich, dass er sich das nicht gerne antut.

Steinhart: In Wien sind mindestens 80.000 Menschen nicht oder schlecht wundversorgt. Da stecken viel Leid und große Gefahren drin, denn es geht oft schnell von einer Druckstelle bis zur Amputation. Im Krankenhaus zum Göttlichen Heiland haben wir das auch in der Ambulanz angeboten, aber die Finanzierung hat leider nicht ausgereicht.

STANDARD: Was ist die Lösung?

Pilz: Vieles, was bei uns Ärzte tun, machen in anderen Ländern die diplomierte Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe. Auf diese Weise könnte man viele Aufgaben auslagern und auf eine andere Weise zusammenarbeiten.

STANDARD: Das ist ja auch ein Ziel der neuen Primärversorgung. Warum gibt es dagegen so viel Widerstand vonseiten der Ärzte?

Pilz: Ich kann es ehrlich gesagt nicht nachvollziehen, warum die Ärztekammer diese mit solch einem biblischen Zorn bekämpft hat. Es ist das Zukunftsmodell, das die Patienten wollen. Ich finde, die Ärzte haben darin eine gute Rolle. Die anderen Berufsgruppen sind bitter nötig, denn auch sie machen gute und wichtige Arbeit. Ich erlebe die Ärztekammer hier in einer Weise verhindernd, die nur über standespolitische Interessen erklärt werden kann.

Steinhart: So absolut dagegen, wie Sie jetzt behaupten, waren wir nie. Aber wir waren sehr wohl gegen bestimmte Formen von Zentren, weil damit etwa der Einstieg internationaler Konzerne vorbereitet worden wäre. Das neue Gesetz ist nicht der große Wurf. Es soll ein paar Allgemeinmediziner und einige andere Berufsgruppen unter einem Dach geben, aber das haben wir in Wien bei Gruppenpraxen schon lange. Das Modell Primary Health Care (PHC) so wie in Mariahilf ist aus unsere Sicht sehr gut. Hier wurde eine fünfjährige Evaluierungsperiode vereinbart. Die hätten wir abwarten und auswerten sollen. Wir wussten nicht, dass bei 7000 Patienten ein Aufnahmestopp kommt.

STANDARD: Konkret: Was stört Sie an den Primärversorgungszentren?

Steinhart: Die Grundidee der Primärversorgungszentren (PVZ) ist die Versorgung von chronisch Kranken. Das sind die Patienten in Mariahilf nicht. Da kommen die Jungen, die kurz nach Büroschluss noch ein Rezept brauchen. Wir wissen auch, dass die Komplexität in diesen Primärversorgungszentren steigt. Er braucht Koordinatoren und Personalmanager. Wenn man will, dann kann man das schon machen, aber es muss klar sein, dass das mehr kostet. Wir wehren uns gegen eine willkürliche Planungspolitik, die vorhandene Ordinationen an die Wand fährt. Das ist der Hauptgrund für unseren Widerstand.

Pilz: Das sind alles Herausforderungen, die man bewältigen muss und kann. Aber die Ärztekammer geht da mit einem Verhinderungsmodus hinein. Das PHC Mariahilf ist fein, aber wir brauchen solche Einheiten auch in anderen Bezirken und Regionen, wo wir soziale Probleme und unbesetzte Praxen haben.

STANDARD: Die Ärztekammer bekämpft Ärzte, die Ambulatorien gründen wollen. Warum tut sie das?

Steinhart: Die Kassen wollen die freiberuflichen Ärzte ausschalten und Institute gründen. Da müssen sie sich nicht an den Gesamtvertrag halten und haben die Ärzte besser im Griff. Sie finden immer wieder Kollegen, die sich dazu verleiten lassen, aber das sind Einzelfälle. Wir haben auch erlebt, wie solche Institute von einem Tag auf den anderen zugesperrt wurden.

Pilz: Das Kindermedizinische Zentrum Augarten (KiZ) ist so ein Beispiel für die Verhinderungspolitik der Ärztekammer. Da haben wir einen eklatanten Versorgungsmangel, und das KiZ ist genau das Modell, das die Eltern und Kinder brauchen – nämlich längere Öffnungszeiten und ein multidisziplinäres Team. Die Ärztekammer hat es fast zehn Jahre lang verbissen verhindert, bis sie zum Glück in letzter Instanz am Verwaltungsgerichtshof abgeblitzt ist.

STANDARD: Was war konkret das Problem beim Kinderambulatorium Augarten?

Steinhart: Dieses Projekt hat viele Schwächen, sie im Detail zu erklären, ginge jetzt zu weit.

Pilz: Die kleinen Patienten und ihre Eltern können nicht verstehen, dass ein himmelschreiender Mangel endlich behoben werden soll und dies von der Kammer bekämpft wird. Es gibt offensichtlich einen Bedarf, auch am Abend und am Wochenende einen Kinderarzt zu finden, damit man nicht gleich ins Spital rennen muss.

Steinhart: Dann muss eben die Kasse endlich den Kinderärzten einen Tarif anbieten, der es ihnen ermöglicht, am Samstag offenzuhalten und Mitarbeitern Überstunden zu bezahlen. Man kann die Ärzte nicht derartig ungleich behandeln. Reformen mit der Brechstange führen zu Problemen.

STANDARD: Offenbar gibt es hier Ängste. Geht es da um Ablösen für bestehende Ordinationen?

Steinhart: Das mit den Ablösen bei der Pensionierung haben wir bereits für die Jungen besser geregelt. Die wichtigste Frage ist: Wie können wir den Hausarzt als freien Beruf erhalten?

Pilz: Ich sehe hier keine große Gefahr. Laut Gesetz soll es 73 Primärversorgungseinheiten (PVE) in den kommenden acht Jahren geben. Da hat man der Welt noch kein Bein ausgerissen. In Wien sollen acht der 16 PVEs in Form von Netzwerken gebildet werden. Da verstehe ich den Sinn dahinter nicht. Geht es da nicht nur darum, älteren Ärzten die Möglichkeit zu geben, ihre Patientenstämme weiterzugeben?

Steinhart: Das sind falsche Unterstellungen, die ich zurückweise. Ich finde auch, die Sozialversicherung liegt hier komplett falsch: Wozu brauche ich Zentren in der Stadt? Dieser Zentrumsfetischismus ist so was von DDR. Meine Patienten wollen zu Fuß in die Ordination kommen oder maximal einige Stationen mit der Straßenbahn fahren. Das ist eine Frage der Würde, dass ältere Personen noch alleine zum Arzt gehen können.

STANDARD: Ganz ehrlich: Ist das neue PVE in Enns denn jetzt wirklich so ein hässliches DDR-Zentrum?

Steinhart: In Enns sind die drei praktischen Ärzte in ein gemeinsames Haus gezogen. Was kann dabei schon schiefgehen?

Pilz: Ich habe viel Verständnis dafür, dass Arzt ein freier Beruf ist und man damit auch etwas verdienen möchte. Aber die jungen Mediziner wollen in den alten Strukturen nicht mehr arbeiten. Die wollen nicht in der Nacht aufstehen und zu Patienten fahren oder Riesenkredite für Ordinationen aufnehmen.

STANDARD: Wie wollen denn die jungen Ärzte arbeiten?

Steinhart: Wir wissen aus Umfragen, dass die Vorstellungen hier sehr unterschiedlich sind. Deshalb sollte das System Jungmedizinern auch vielfältige Angebote machen. Darum wollen wir auch die Anstellung von Ärzten, das erleichtert auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir bieten als Kammer jungen Ärzten Start-up-Beratung und halten auch Lehrpraxen für besonders wichtig. Manchmal muss man einfach in eine Praxis hineinschnuppern, damit man merkt, was einem gefällt.

STANDARD: Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Gesundheitsberufe ist das Kernelement der neuen Primärversorgungsmodelle. Wie stehen Sie dazu?

Steinhart: Man muss sich die Systematik dahinter ansehen und natürlich auch über Haftungen reden. Macht eine Hebamme einen Fehler, haftet der Gynäkologe. Das habe ich an einem konkreten Fall erlebt. Es muss klar sein, wer die Haftung hat und wer die Anweisungen gibt. Ich glaube aber nicht, dass es die Lösung ist, Leistungen an die "billigeren" Schwestern abzugeben, nur weil man zu wenige Ärzte hat.

Pilz: So soll die Zusammenarbeit auch nicht funktionieren – teuer gegen billig, das wertet die Pflege zu Unrecht ab. Schauen wir uns doch an, was wir für die Patienten brauchen. Die Pflege kann viele Aufgaben selbstständig übernehmen. Und für Patienten mit einem hohen psychosozialen Betreuungsbedarf wäre es doch gut, wenn der Hausarzt einen Sozialarbeiter oder Psychotherapeuten in der Ordination anbieten kann.

Steinhart: Da wäre mir lieber, ich rufe bei Bedarf ein Psychotherapeutenzentrum an. Die Politik soll einfach einmal auch laut sagen, dass sie will, dass einige Teile der Versorgung die Pflege übernimmt. Und dann schauen wir uns an, was die Patienten dazu sagen.

Pilz: Einspruch! Es ist keine Qualitätsverschlechterung, wenn eine gut ausgebildete Pflege Leistungen übernimmt. Wenn wir der Pflege diese Verantwortung und Bedeutung geben – natürlich in Zusammenarbeit mit Ärzten -, dann ist das gut für die Patienten und das System.

STANDARD: Wie hätten Sie denn als Patienten gerne die Versorgung?

Steinhart: In Wohnortnähe Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen unter einem Dach. Wenn man krank ist, fühlt man sich hilflos und ausgeliefert. Da wünschen sich viele Menschen jemanden kompetenten, den sie kennen, dem sie vertrauen und der für sie entscheidet.

Pilz: Ich hoffe, die Ärzte entscheiden gemeinsam mit den Patienten und nicht über sie. Ich wünsche mir eine Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe auf Augenhöhe. Die Hierarchie, die im Gesundheitswesen bisher sehr ausgeprägt war, sollte zum Wohle der Patienten aufgelockert werden.

Steinhart: Warum will uns dauernd jemand erklären, wie wir unseren Job machen sollen?

Pilz: Weil Sie nicht der Einzige sind, der diesen Job macht. Da gibt es auch andere Gesundheitsberufe. Das Gesundheitswesen ist interdisziplinär. Dieser paternalistische Zugang zur Medizin ist einfach überholt. Das passt nicht mehr in unsere Zeit. (Andrea Fried, CURE, 4.9.2017)