"Man muss auch sagen, was gut ist", wetterte kürzlich ein Spiegel–Redakteur gegen den allgegenwärtigen Pessimismus, der laut ihm so "verführerisch" sei. Nun, abgesehen von der Panikmache der rechten und linken Populisten und Nationalisten, von der klassischen Schwarzmalerei der Boulevardblätter gibt es zahlreiche Untersuchungen der Meinungsforscher darüber, wie stark die Gegenwart von Ängsten geprägt wird.

Die Angst vor Terroranschlägen, vor neuen Kriegen, vor Bedrohung des Mittelstandes und vor allem vor einer neuerlichen Flüchtlingskrise überschattet auch Abend für Abend die Nachrichten im Fernsehen. Angesichts des großen Vorsprungs von Angela Merkel bei den Meinungsumfragen warnte selbst Martin Schulz, der unglückliche SPD-Kanzlerkandidat, in seiner verzweifelten Lage vor einer Wiederholung der Flüchtlingskrise – jener Politiker, der als EU-Parlamentspräsident Merkels Asylpolitik seit September 2015 noch voll und ganz unterstützt hatte. Diese Verlogenheit charakterisiert die ganze Debatte, bei der die Europäische Union zum Teil überfordert, zum Teil als Schuldige durch "Versagen" massiv kritisiert wird. Die EU-Beamten sind kompetent, aber bei allem, was Kosten, Steuer und handfeste Wirtschaftsinteressen betrifft, siegt der nationale Egoismus der Regierungschefs, die ihre Entscheidungen vor den eigenen Wählern vertreten müssen. Die Solidaritätsverweigerung der vier postkommunistischen EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen hat tiefe Wunden hinterlassen.

Die Debatten über Schlepperrouten und Auffanglager dürfen nicht über die bedrängte Lage Italiens hinwegtäuschen. Deutschland, Frankreich, Österreich und andere Staaten könnten zumindest einen Teil jener Flüchtlinge abnehmen, die Aussicht auf Asyl haben, und bei der Abschiebung der anderen helfen. Der Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für die Einrichtung von Auffanglagern im zerfallenen Libyen, wo Chaos und Gewalt herrschen, kann keine wirkliche und dauerhafte Erleichterung bedeuten.

Nachdem ich im Jahr 2000 für eine ORF-TV-Doku zum zehnten Jahrestag des Todes von Bruno Kreisky den "großen Revolutionsführer" Muammar al-Gaddafi interviewt hatte, bemerkte ein vorsichtiger Gesprächspartner zu vorgerückter Stunde: "Der Revolutionsführer bleibt unser geliebter Diktator. In Libyen ist jedoch alles möglich."

Zehn Jahre später zerbrach die Diktatur mithilfe des britischen, französischen und amerikanischen Militäreinsatzes. Wenn man heute den ausgebliebenen Wiederaufbau für die schrecklichen Zustände in den Lagern und für die inhumane Behandlung der auf eine Million geschätzten Migranten verantwortlich macht, spürt man manchmal sogar eine gewisse Nostalgie für die Gaddafi-Ära, als der Diktator für die Westkredite keine Flüchtlinge durchließ. Wer erinnert sich daran, dass unter Gaddafi zigtausende Libyer und Migranten misshandelt und gefoltert wurden.

Ob es sich um Abmachungen mit einem Diktator oder mit Bandenführern handelt, die EU muss mit der Fiktion der uneingeschränkten Aufnahme von Flüchtlingen brechen und gemeinsame verpflichtende Regeln entwickeln. Nur so kann man die Angst der Menschen bekämpfen. (Paul Lendvai, 7.8.2017)