Wien – Der Prozess um sexuellen Missbrauch einer Wehrlosen gegen Hashmat S. ist eines der komplexesten Sexualverfahren, die in jüngerer Vergangenheit am Straflandesgericht Wien verhandelt worden sind. Auf der einen Seite steht der 32-jährige Angeklagte, ein Afghane, der es seit 2009 auf drei Vorstrafen gebracht hat, eine davon wegen Vergewaltigung. Auf der anderen Seite Frau S. – die bereits im April 2016 Opfer einer versuchten Vergewaltigung unter den gleichen Vorzeichen wurde.

Schon am ersten Verhandlungstag im Juli beteuerte der Angeklagte, der seinen Status als subsidiär Schutzberechtigter wegen seiner Vorstrafen verloren hat, seine Unschuld. Ja, er habe Geschlechtsverkehr mit der 23-Jährigen gehabt, der sei aber einvernehmlich gewesen. Warum die junge Frau ihm nun vorwirft, sie betäubt zu haben, kann er sich nicht erklären.

Zufälliges Treffen am Schottentor

Kennengelernt habe er Frau S. am 14. Jänner gegen 22 Uhr beim Schottentor in der Wiener Innenstadt. Man sei zu einem Freund von ihm gefahren, habe getrunken, sich gut verstanden und sei sich nähergekommen. Als der Freund die Wohnung verließ, habe er mit der Frau geschlafen, sagt der Angeklagte. Danach habe sie eine Zigarette oder einen Joint geraucht, ihr sei schlecht geworden, sie habe erbrochen.

Um ihr die Gelegenheit zum Ausnüchtern zu geben, habe man die Wohnung gewechselt. Bei einem älteren Afghanen habe man in einer Einzimmerwohnung gemeinsam mit dem Mieter und einem jüngeren Pärchen genächtigt. Gegen 9 Uhr ging die Frau, zuvor habe man aber noch Handynummern ausgetauscht.

Das zufällige Treffen beim Schottenring bestätigt die Studentin, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit einvernommen wurde. Sie sei auch freiwillig zu der Wohnung in Favoriten mitgekommen und habe dort getrunken. Mehr, als ihr gutgetan habe, behauptet sie, da die beiden Männer ihr immer wieder Wodka nachgeschüttet hätten.

Zweiter Mann anwesend

Dann folgte ein Filmriss, erzählte sie auch bei der Polizei. Irgendwann sei sie wieder zu Bewusstsein gekommen, während der Angeklagte sie penetrierte, sie sei aber wehrlos gewesen. Der zweite Mann sei anwesend gewesen, sagt sie.

Sie sei halb ohnmächtig gewesen, als der Angeklagte sie in die zweite Wohnung gebracht habe. Dort habe er weiter Sex von ihr verlangt und ihr Gewalt angedroht, falls sie zur Polizei gehen sollte. Nachdem sie gegangen war, habe sie ihre Mutter kontaktiert.

Die ist am zweiten Prozesstag die erste Zeugin vor dem Schöffensenat unter Vorsitz von Christoph Bauer. Dass dieser Berufsrichter das Verfahren leitet und Landesgerichtspräsident Friedrich Forsthuber Beisitzer ist, trägt zur Komplexität des Falles bei. Denn das Duo hat im Februar einen Afghanen wegen versuchter Vergewaltigung zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Opfer damals: Frau S., die mit dem ihr Unbekannten in der Nacht freiwillig zum Donaukanal gegangen war, ehe er ihr in den Hausflur folgte und über sie herfiel. Auch dieser Angeklagte hatte von einvernehmlichen Handlungen gesprochen.

Einsamer Angeklagter

Der Senat versucht also von der Mutter Näheres über Frau S. zu erfahren. Vor allem, warum sie ein zweites Mal mit einem wildfremden Mann mitging. "Sie hat mir darauf mehrere Antworten gegeben, unter anderem, sie hatte Angst, ihn zu verletzen." Denn Angeklagter S. soll der Frau gesagt haben, er sei so einsam in der Stadt und wolle Leute kennenlernen. "Durch ihre Krankheit kennt sie auch nicht zu viele", sagt die Mutter dazu.

An welcher psychischen Erkrankung ihre Tochter leidet, kann die 59-Jährige allerdings nicht genau sagen, mehrere Verdachtsdiagnosen stehen im Raum. "Seit 13 Jahren versucht sie es allen recht zu machen", erinnert sich die Zeugin. Sie sei "sehr angepasst".

Eineinhalb Monate vor dem nun angeklagten Vorfall sei ihre Tochter von einem siebenwöchigen stationären Aufenthalt in Deutschland zurückgekehrt, wo sie auch ihren ersten Freund, einen Mitpatienten, kennengelernt hatte. Noch etwas sagt die Mutter: Ihre Tochter wolle eigentlich nicht berührt werden.

Schwierigkeiten, andere Menschen einzuschätzen

Hier hakt Beisitzer Forsthuber nach: "Beim Vorfall 2016 hat sie aber von sich aus gesagt, sie habe sich von dem Unbekannten massieren und ein Bussi auf die Wange geben lassen. Das widerspricht dem jetzt." Die Mutter vermutet, dass ihr Kind glaube, auf diesem Weg Konflikten aus dem Weg gehen zu können. Oder dass sie die Absichten anderer Personen nicht richtig einschätzen könne.

Privatbeteiligtenvertreterin Monika Ohmann fragt die Mutter ihrer Mandantin auch, wie die Studentin im Jänner 2017 nach der polizeilichen Einvernahme gewirkt habe. "Sie war ganz fertig", lautet die Antwort. Auch die junge Frau dürfte als Zeugin ausgesagt haben, sie sei bei der Befragung immer wieder in Weinkrämpfe ausgebrochen.

Nur: Die betroffene Polizistin kann sich daran nicht erinnern. Im Gegenteil, Frau S. habe einen "sehr guten" Eindruck auf sie gemacht, die Beamtin habe die junge Frau als "sehr ruhig" wahrgenommen. "Kann es sein, dass sie mit ihren Emotionen nicht herauskann?", fragt Forsthuber die Polizistin. "Das ist möglich", sagt die.

1.300 Euro Schadenersatz

Für Ohmann, die 1.300 Schadenersatz für die Studentin will, und die Staatsanwältin ist klar, dass die Darstellung der Frau stimmt. Das Opfer sei wehrlos gewesen, das sei dem Angeklagten auch klar gewesen.

Ganz anders sieht es Verteidiger Georg Bürstmayr in seinem Plädoyer, für das ihm auch der Vorsitzende Bauer Respekt zollt. Er weist auf Widersprüche wie jenen des Zustands bei der polizeilichen Vernehmung hin. Und arbeitet besonders einen Umstand heraus: Die Frau sage zwar immer, sie habe einen Filmriss und könne sich an nichts erinnern, nur um dann wieder recht detaillierte Beobachtungen zu schildern, die wiederum von einer Erinnerungslücke gefolgt werden.

"Es ist möglich, dass es sich so zugetragen hat, wie Frau S. aussagt. Das ist ein entsetzlicher Verdacht", konzediert er. "Aber es kann auch sein, dass mein Mandant mit einer Beschwipsten Sex hatte und sie erst nachher weggetreten ist. Und sich dann ihre Erinnerungen und das Trauma des früheren Vorfalls vermischen." Noch etwas gibt Bürstmayr zu: "Es gibt nichts Unbefriedigenderes, als wenn in so einem Strafverfahren nicht klar ist, was passiert ist. Aber es gibt dann nur eine mögliche Konsequenz: den Freispruch."

Fünf Jahre Haft

Eine Schlussfolgerung, der der Senat nicht folgt. Nach einer hal ben Stunde verurteilt er S. nicht rechtskräftig zu fünf Jahren Haft und 1.000 Euro Schadenersatz. "Es war nicht leicht. Nur – so schwer, dass man mit Freispruch vorgehen muss, war es auch nicht", begründet der Vorsitzende die Entscheidung.

Für Bauer stehen mehrere Dinge fest. Erstens: "Sie haben Frau S. mit einer Intention angesprochen – dass Sie mit ihr Sex haben." Zweitens: "Sie tut sich schwer, Nein zu sagen." Drittens: "Sie haben sie abgefüllt!" Denn das Gericht glaubt der Frau, dass es erst zum Geschlechtsverkehr gekommen sei, als sie bereits benommen und wehrlos dagelegen sei.

Auch die Abfolge Erinnerungslücke – detaillierte Beschreibung – Erinnerungslücke spricht aus Bauers Sicht nicht gegen die Aussage der Frau. "Ein derartiger wellenmäßiger Filmriss kommt immer wieder vor." (Michael Möseneder, 7.8.2017)