Benjamin Clementine in Wiesen.

Foto: Robert Newald

Wien – Der Vergleich mit Nina Simone ist natürlich Quatsch. Simone, die Unberührbare, hat zu viel erlebt, durchgemacht und erschaffen, um sich mit irgendjemandem messen zu müssen. Doch allein der Umstand, dass der Vergleich auftaucht, macht neugierig auf Benjamin Clementine. Der Brite trat am Samstag im Rahmen des Festivals Out of the Woods in Wiesen auf.

Es war nicht der beste Rahmen für die Kunst des Briten. Inmitten der üblichen Festivalmischung aus "Hollodarö!" (die Eltern sind nicht dabei!), "Prost!" (selbsterklärend) und "Wo ist die Bühne?" (irgendwie geht's hier um Musik) wirkte er etwas fehl am Platz. Wobei der Auftritt Clementines und das im Vergleich zu Großfestivals gewilltere und entspanntere Publikum doch mehr Menschen in Bann schlugen, als angenommen werden konnte, zumal der 28-Jährige erst ein Album veröffentlicht hat. Demnächst folgt mit I Tell a Fly das Zweite.

Eine Erscheinung

Clementine ist eine Erscheinung. Eine Mischung aus Little Richard und Grace Jones – Minus des Glamours der beiden. Das schlug sich in einer Bühnengarderobe aus dem Baumarkt nieder. Clementine und seine drei Instrumentalisten waren im Blaumann auf der Bühne, der fünfköpfige Damenchor trug dasselbe in Weiß. Als Anflug von Exzentrik muss Clementines turmhohe Frisur gewertet werden sowie ein Rüschenumhang wie man ihn aus liebevoll gepflegten Wirtshaustoiletten kennt. So lehnte er an einem Barhocker viel zu hoch über seinem Flügel.

Seine Art, aus der Vogelperspektive Klavier zu spielen, beschreibt bereits den Auftritt. Was auf Platte eine Breitseite aus dem weiten Feld des Kunstlieds prägt, schob Clementine live mit seiner Naturlässigeit weg. Die schwierigsten Stücke kredenzte er mit sagenhafter Leichtigkeit, wirkte beinahe unterfordert. Er dirigierte den Chor und legte sich nach dem Song Condolence mit dem Publikum an, auf lässig natürlich.

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Wer zum Rummachen da sei, wäre zu Hause besser aufgehoben, meinte er an die Menschen adressiert, die weit hinten im Gras saßen. Es ginge hier um Musik, sie sollten doch so nett sein und sich nach vor bequemen, danke schön.

Ein Wahnsinn

Condolence war das zweite oder dritte Lied und ein Wahnsinn. Viele Künstler wären froh, ein Stück von derartiger Wirkmacht in ihrem Repertoire zu haben. Clementine geht scheinbar über vor derlei Songs, also verschwendet er sie bei erster sich bietender Gelegenheit ohne dass die Darbietung je schlechter wird.

Musikalisch bespielt er ein eigenes Terrain. Eine Mischung aus Kunstlied, Soul im elektronischen Gewand sowie einer Vorliebe für poetische Balladen. Dem Mann ist Literatur so sehr Herzensangelegenheit wie Musik.

Im Vergleich zu ähnlich orientieren Künstlern wie Antony and the Johnsons oder Rufus Wainwright umweht Clementines Kunst aber die Aura einer harten Wirklichkeit, die nichts mit der Koketterie mit kunstvoll ruinierten Subkulturen zu tun hat. Als Teenager riss Clementine von zu Hause aus, ging nach Paris, lebte vier Jahre lang in Obdachlosenasylen oder auf der Straße. Er schrieb und komponierte, trat auf, wo er konnte und durfte. Sein Talent – es herrscht Genieverdacht – blieb nicht lange unbemerkt. Ben Clem wurde entdeckt und kassierte, wir kürzen hier den Weg stark ab, 2015 den Mercury Music Prize. In Frankreich ist er ein Star, mit dem neuen Album sollte sich seine Popularität vervielfachen.

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Mit unerhörter Verve durchwanderte er live Songs wie God Save the Jungle oder Phantom of Allepoville. Snarelastige Drums, Brummbass und ein erhebender Chor kreuzten ein filigranes Spinett und das zwischen Impressionismus und Expressionismus bediente Klavier Clementines. Der schmetterte Balladen voll klarer Schönheit oder japste Irrsinn wie einst Screamin' Jay Hawkins, belegte das Publikum wie dieser Voodoo-Zauberer mit seinem "Spell".

Mit Acts wie Sohn oder Feist ging das Festival anschließend am Amtsweg der Berechenbarkeit seinem Ende im Regen zu, den Höhepunkt, den machte Clementine niemand mehr streitig. (Karl Fluch, 23.7.2017)