Hermann Burger (1942-1989), hier 1987: ein lebenslanger Versuch, die Wirklichkeit mit literarischen Mitteln zu übertrumpfen.


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Wien – Man kann der Schweizer Stadt Aarau mancherlei nachsagen, darunter viel Günstiges. Nur dass sie Danzig ähnlich sehe, dem Schauplatz von Günter Grass' legendärer Blechtrommel, gehört zu den originelleren Schmähungen, die sich jemand ausdenken kann. Als Hermann Burger (1942-1989) sich zu besagter Gleichsetzung entschloss, war er angehender Prosaautor. Manche meinen, aus ihm wäre später der originellste, jedenfalls aber der verhaltensauffälligste Erzähler der ganzen Schweizer Literatur geworden.

Hier, im Romanfragment Lokalbericht (1970), sehen wir einen angehenden Literaturvirtuosen auf der Suche nach sich selbst. Architekt wollte der junge Burger werden. In Zürich, wohin er studierend verreist war, gewannen ihn Großgermanisten wie Emil Staiger für die Sache der Dichtkunst. Burger wurde kein Baumeister. Aber er türmte von nun an Wörter zu immer höheren, immer schwindelerregenderen Satzbauten.

Burger bemerkte, dass er die Welt nur dann in ihrer Gänze aufzufassen bereit war, wenn sie ihm als literarisch verwandelte – und vorgekaute – entgegentrat. Als Autor nährte sich der passionierte Raucher und Zauberkünstler bevorzugt von Texten anderer. Lokalbericht ist somit beides: ein Roman über das Nahe- und Nächstliegende. Zugleich ein liebendes Pamphlet, ein leidenschaftliches Stück Antiheimatliteratur.

Aarau spielt als Hauptstadt des Kantons Aargau die Hauptrolle in einem Text der lebensweltlichen Verwicklung. Ein "Stockturm" grüßt aus dem Stadtbild herüber – und ist doch nur das getreuliche Abbild eines Geschwisterbauwerks in der Blechtrommel.

Der Erzähler nennt sich als Burgers Alter Ego Günter Frischknecht und gibt sich solcherart als Zerrbild von Grass- und Hesse-Gestalten zu erkennen. Aarau wiederum wird in Seldwyla gespiegelt, dem Schauplatz von Gottfried Kellers berühmtestem Novellenzyklus. Von nun an wird es im Hermann-Burger-Kosmos heißen: Egal in welchen Topografien die Sätze dieses Autors ins Kraut schießen, die Literatur ist immer schon dort (gewesen). Je getreulicher der nassforsche Burger das jährlich stattfindende Aarauer Jugendfest zu schildern vorgibt, desto unheimlicher erscheint der treuherzig erzählte Biedersinn. Glas wird zersungen, Oskar Matzerath lässt grüßen. Und hinter Häuserecken, in finsteren Abortverliesen, lauert der Irrsinn.

Gegenöffentlichkeit

Burger, der spätere Schöpfer manieristischer Meisterwerke wie Die künstliche Mutter, erfindet Literaturkritiker, die "Neidthammer" heißen. Er denkt sich eine Gesellschaft von Dienstleistern aus, die für Mitmenschen, die unter Zeitmangel leiden, als Leser einspringen. Eine Unzahl (damals) lebender Zeitgenossen findet Eingang in den Lokalbericht. Die Glücklichen wissen bloß nichts von diesen Entstellungen, Burger lässt die Blöcke des Romans Anfang der 1970er liegen und schließlich auf sich beruhen.

Erst mit seinem nächsten Buch, dem genialen Lehrerroman Schilten (1976), wird der Autor Teile der Schweizer Öffentlichkeit gegen sich aufbringen. Man versteht nicht, dass Burger die Literatur so lange verlässlich um- und überschreibt, bis jeder sich wiedererkennt. Burgers Prosastil ist künstlich. Prompt sieht man ihn für wahrheitserzeugend an.

Der Autor wird zur Berühmtheit weit über die Aargauer, ja über die Landesgrenzen hinaus. Marcel Reich-Ranicki fördert ihn. Im Schatten bizarrer Angewohnheiten gedeiht aber auch die manische Depression, die Burger 1989 aus dem Leben reißt. Der Irrwitz dieser Art Literatur liegt in ihrem Ethos der Entstellung. Hermann Burger ist im Lokalbericht (1970) noch ein Student der eigenen Zauberpraxis. Er wird bis zum Schluss behaupten, alle Wirklichkeitspartikel selbst erfunden zu haben. Sein Erstling wurde jetzt von Burger-Spezialist Simon Zumsteg mustergültig editorisch aufbereitet. 75 Jahre nach Burgers Geburt lässt sich die Synopsis des Textes auch digital bestens nachvollziehen. (Ronald Pohl, 18.7.2017)