Steile Gebäude, steile Thesen: In der Wirtschaftswissenschaft (im Bild die WU) tobt ein Schulenstreit.

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Wirtschafts-)Wissenschafter sind auch nur Menschen. Das klingt banal, ist es aber nicht. Die (Wirtschafts-)Wissenschaft ist kein weltabgewandter Elfenbeinturm, sondern zutiefst in die Gesellschaft eingebettet. So der Soziologe Pierre Bourdieu, der den "Homo academicus" in seinen gesellschaftlichen Bezügen porträtiert hat.

Demzufolge ist auch die (Wirtschafts-)Wissenschaft ein Kräftefeld von Akteuren, die gegen-, neben- und miteinander um Macht ringen. Diese Macht speist sich aus der Anhäufung ökonomischen (z. B. Forschungsgelder), sozialen (z. B. Zitierkartelle) und kulturellen Kapitals (z.B. akademische Titel) sowie dessen Inwertsetzung als symbolisches Kapital (z. B. "Exzellenz"). Um ihre Machtstellung zu stärken, errichten die zentralen Akteure Zugangsbarrieren zum (wirtschafts-)wissenschaftlichen Feld oder suchen Konkurrenten an den Rand oder darüber hinaus zu drängen.

Der Kommentar dreier Volkswirtschaftsprofessoren der Wirtschaftsuniversität Wien über die "Pseudowissenschaft in der Volkswirtschaftslehre" (Badinger, Oberhofer, Cuaresma, STANDARD vom 15./16. 7. 2017) offenbart ungewollt, aber umso eindrücklicher solche Machtstrategien.

Fünf Gebote

Danach gelten für jene, die im Feld der Ökonomie die Führungsmacht beanspruchen, fünf Verhaltensgebote. Erstes Gebot: Beschränke den Weg zur Erkenntnis auf eine – und nur eine – "wissenschaftliche Methode". Zweites Gebot: Definiere diese Methode möglichst eng ("Hypothesen werden auf Basis eines theoretischen Fundaments abgeleitet und umfassend empirisch überprüft"). Drittes Gebot: Erhebe für diese eng gefasste Methode den Anspruch der Breite ("Wettbewerb der Ideen"), um allfälliger Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Viertes Gebot: Behaupte einen schroffen Gegensatz zwischen dem eigenen Ansatz ("Mainstream") und konkurrierenden Ansätzen ("Alternativen"). Fünftes Gebot: Diskreditiere die konkurrierenden Ansätze mit der im Wissenschaftsfeld schwerwiegendsten Missbilligung ("Pseudowissenschaft").

Im Tunnelblick des methodologischen Dogmatismus erscheint das Feld der (Wirtschafts-)Wissenschaft viel enger, als es tatsächlich ist. Neben dem zum Königsweg überhöhten quantitativ-deduktiven Ansatz gibt es nicht minder wissenschaftliche Ansätze, die sich vereinfachend als "qualitativ-induktiv" charakterisieren lassen. Hier werden Hypothesen nicht vorab aus Theorien deduziert, sondern aus empirischer Forschung induktiv gewonnen. Dabei beschränkt sich die Datengrundlage nicht auf Zahlenfutter für ökonometrische Modelle, sondern umfasst die ganze Fülle textlicher, bildlicher und sonstiger Zeichen der Wirklichkeit.

Erkenntnisziel sind nicht generelle Gesetzmäßigkeiten, sondern zeit- und raumspezifische Fallrekonstruktionen. Solche Ansätze werden von der Mainstream-Ökonomie häufig als "anekdotische Evidenz" oder, salopp-österreichisch gesagt, als "G'schichtln" abgetan. Gewiss gibt es unter den alternativen Ansätzen wissenschaftlich fragwürdige Beispiele; doch die gibt es auch im Mainstream. Scharlatane finden wir auf beiden Seiten; sie in die Schranken zu weisen ist Aufgabe eines kritischen – und daher undogmatischen – Wissenschaftsdiskurses.

Wenn die Wirtschaftswissenschaft in einer Krise ist, dann ist diese selbst verschuldet. Der Versuch, aus einer Sozial- und Kulturwissenschaft eine (Pseudo-) Naturwissenschaft zu machen, führt zwangsläufig in den methodologischen Dogmatismus. Einen Ausweg aus dieser Sackgasse bietet eine interdisziplinäre Öffnung. Ökonomen sollten mehr auf andere Sozial- und Kulturwissenschafter hören. Diese für Hohepriester des Mainstreams ketzerisch anmutende Forderung stammt nicht aus dem Mund eines "pseudowissenschaftlichen" Alternativen. Niemand Geringerer als der Yale-Ökonom Robert Shiller, Wirtschaftsnobelpreisträger und Präsident der American Economic Association, forderte kürzlich seine Zunftgenossen auf, sinnstiftenden Erzählungen von wirtschaftlicher Relevanz mehr Aufmerksamkeit zu widmen. So etwa interpretiert er die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 als Abwärtsspirale, getrieben durch die sich selbst erfüllende Prophezeiung von der massenmedial verbreiteten Analogie zur "Great Depression" ab 1929.

Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung erfordert Offenheit auf allen Seiten. Auch Sozial- und Kulturwissenschafter verlassen langsam ihre liebgewonnenen Schrebergärten und setzen sich (wieder) mehr mit der rauen Welt der Wirtschaft auseinander. Dafür liefern ihre Klassiker – von Georg Simmel (Philosophie des Geldes, 1900) über Max Weber ( Wirtschaft und Gesellschaft, 1922) bis zu Karl Polanyi (The Great Transformation, 1944) – viele Lehrbeispiele.

Interdisziplinärer Diskurs

Gerade der Letztgenannte erfährt angesichts der Krisen des globalisierten Kapitalismus aktuell eine Renaissance in Soziologie, Politologie und Geschichte – nicht aber in der Ökonomie. Sozial- und Kulturwissenschafter sollten die Wirtschaft nicht den Ökonomen überlassen – mit dem Ziel, im interdisziplinären Diskurs realitätsgerechteres Wissen zu schaffen. (Ernst Langthaler, 17.7.2017)