Matthew Goodwin ist Politikwissenschafter an der University of Kent.

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Die Erfolge von Rechtspopulisten in vielen Ländern sind nicht plötzlich eingetreten, sagt der Politikwissenschafter Matthew Goodwin im STANDARD-Interview. In der westlichen Welt brodle seit langer Zeit ein Konflikt, der durch die Flüchtlingskrise an die Oberfläche gekommen sei. In den 1970ern habe sich der Wandel der Gesellschaft beschleunigt – viele können und wollen nicht mehr mit. Goodwin (35) forscht an der University of Kent. Er war auf Einladung von Forum Alpbach und Erste-Stiftung in Wien.

Das geschriebene Interview wurde gekürzt. Das ganze Gespräch, das 30 Minuten dauert, lässt sich hier und als Podcast nachhören (einfach in der App nach "Nachfrage – der Interview-Podcast" suchen).

STANDARD: Sie forschen seit Jahren zu Rechtspopulismus und nationalen Identitäten, Sie haben auch eine große Studie zum Brexit gemacht. Angst um Jobs und die Wirtschaft sind nicht so wichtig, war Ihr Ergebnis. Was haben Brexit-Wähler gemeinsam?

Goodwin: Sie waren im Schnitt älter, weiß, haben die Schule oft relativ jung verlassen, fühlen sich in ihrer wirtschaftlichen Position abgehängt. Am bedeutendsten war ihre Sorge über Migration. Seit 2004 sind viele Ausländer nach England gekommen. Der Brexit-Wähler hatte vor allem Angst, was diese Migration mit seiner nationalen Identität, der Gesellschaft und der Lebensweise im Land macht. Es waren also ökonomische und kulturelle Sorgen.

STANDARD: Machen sich die Leute Sorgen um ihre Identität, weil sie finanziell und wirtschaftlich, etwa im Job, schlechter dastehen?

Goodwin: Wir haben das untersucht. Ob jemand viel oder wenig verdient, war für die Wahl nicht so wichtig. Entscheidend waren die Unterschiede in der Bildung. Die Briten ohne Qualifikation haben zu 75 Prozent für den Brexit gestimmt. Die Akademiker nur zu 23 Prozent. Sie haben völlig unterschiedliche Weltbilder. Wer für den Brexit gestimmt hat, findet oft auch, dass wir Kriminelle stärker bestrafen und die Todesstrafe wiedereinführen sollten, dass die Rechte für Minderheiten zu weit gehen. Sie sind überfordert vom schnellen sozialen Wandel.

Nigel Farage führte Großbritannien in den Brexit.
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STANDARD: Wie viel Einfluss hat die formale Bildung auf die Weltsicht? Geht es am Ende nicht doch auch um Jobchancen und Perspektiven?

Goodwin: Da geht es nicht um Themen wie den Job, das sind ganz grundlegende Unterschiede, wie wir die Welt wahrnehmen. Im ganzen Westen geht die Schere auf, es gibt einen stillen Konflikt zwischen den Liberalen, Offenen, die den sozialen Wandel befürworten, und jenen, die konservativer sind und Ordnung und Stabilität wollen. Der Brexit ist nur ein Ausdruck dessen. Jemand aus London hat am Tag nach der Wahl gesagt, er sei aufgewacht und habe sich gefühlt, als hätte ein anderer Teil des Landes seine Werte über ihn gestülpt. So haben sich die Wähler der Populisten in den vergangenen 30 Jahren gefühlt.

STANDARD: Gilt Ihre Analyse auch für Europa und die USA?

Goodwin: Ganz allgemein gibt es einen Backlash gegen eine Weltsicht, die ab den 1970ern stärker wurde. Wir müssen in diese Zeit zurück, um zu verstehen, wo Europa heute ist. Wir Wissenschafter beschreiben in dieser Zeit den Aufstieg des Postmaterialismus. Viele Menschen sind mit einer starken Wirtschaft aufgewachsen, universitäre Bildung wurde ausgeweitet, die Menschen wurden progressiver, Sicherheit war nicht mehr ein so wichtiges Thema, die Sorge über Migration nicht groß, die Menschen wurden wohlhabender, liberaler, toleranter. Was wir jetzt sehen, ist ein Backlash der Materialisten, der Konservativen. Es ist eine Gegenrevolution gegen die liberale Revolution, die in den 1970ern gestartet ist.

Strache und Le Pen: Die Materialisten schlagen zurück, sagt der Politikwissenschafter.
Foto: apa / neubauer

STANDARD: Wenn Sie von Postmaterialisten beziehungsweise Liberalen und Materialisten und Konservativen sprechen, wie teilen Sie die Bevölkerung Großbritanniens da ein?

Goodwin: Unsere Studie zeigt, dass die beiden Gruppen in etwa gleich groß sind. Etwa 40 Prozent sind grob gesprochen liberal, links, progressiv, 40 Prozent sind konservativ oder autoritär, sie stemmen sich gegen den sozialen Wandel. Letztere, die Konservativen, richten sich an den rechten Bewegungen aus, sozialkonservative Arbeiter haben früher links gewählt, jetzt laufen sie zu den Rechten über, weil es einen Backlash gegen die liberale Welle gibt. Ökonomische Sorgen sind für sie zweitrangig. Wichtig ist ihnen ihre Identität. Sie wenden sich nicht an die Rechten, weil sie mehr Umverteilung wollen. Sie tun es, weil sie ihre Werte teilen.

STANDARD: Sind wir in den vergangenen 20 oder 30 Jahren als Gesellschaft nicht liberaler geworden?

Goodwin: Wir dürfen nicht vergessen, wie wichtig Migration und der ethnische Wandel hier sind. Es hat immer eine Wertekluft gegeben. Es gab immer Leute, die für den progressiven Wandel waren, und die, die Ordnung und Hierarchien wollten. In Großbritannien hat sich die Zuwanderung stark erhöht, dann kam die Flüchtlingskrise. Man kann sagen, dass wir vor einer existenziellen Herausforderung für den Nationalstaat und nationale Gemeinschaften stehen. Wir werden dadurch alle stark politisiert, diese Ereignisse bringen die Wertekluft an die Oberfläche.

STANDARD: Wie?

Goodwin: Die Menschen schauen in die Medien, in die Politik, und sie sehen da völlig andere Reaktionen auf die Geschehnisse. Bei den Flüchtlingen zum Beispiel: Bei ihren konservativen Bekannten sehen sie eine ganz andere Reaktion. Weil sich unsere Gesellschaft so schnell verändert hat, wurde uns bewusst, dass es diese Wertekluft überhaupt gibt.

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Trump-Wähler wollen nicht mehr Umverteilung. Sie teilen seine Werte, sagt Goodwin.
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STANDARD: Noch einmal zurück zu meiner Frage: Ist ein durchschnittlicher Arbeiter oder ein 20-Jähriger heute liberaler als in den 80ern?

Goodwin: Ja, liberale Positionen wie die Ehe für alle, Antirassismus oder Rechte für Frauen werden viel breiter unterstützt. Die liberale Welle ist größer geworden. Aber wichtig ist, dass sich dieser Wandel verlangsamen oder er sogar stoppen kann. Nämlich dann, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, wie Politikwissenschafter argumentieren. Das ist eine Theorie. Sie meint, der Wandel ist in Stein gemeißelt, geht nicht zurück, und wenn die Wirtschaft wieder stärker wächst, gewinnt die Welle erneut an Fahrt. Es gibt aber viel, das wir nicht wissen. Wird sich etwas an der Wertekluft ändern, wenn es in der EU-Wirtschaft besser läuft? Oder mobilisieren die Konservativen erfolgreich gegen den Wandel? Der erste Teil der Theorie scheint einzutreten, es gewinnen ja vor allem Rechte dazu.

STANDARD: Wenn Teil zwei ebenso eintritt, sehen wir dann im Moment also so etwas wie den letzten Aufschrei der Konservativen?

Goodwin: Es gibt zwei Denkschulen. Eine ist, dass die Jungen heute liberaler, toleranter und offener sind und auch so altern. Dann werden wir zu einer kosmopolitischeren, liberaleren, offeneren Welt. Das nenne ich das "Economist"-Argument, weil es das Magazin jeden Monat einmal bringt.

STANDARD: Die andere Denkschule?

Goodwin: Sie geht davon aus, dass die Jungen mit dem Alter konservativer werden, so wie ihre Eltern und Großeltern. Dann würde der Westen weiterhin politische Tumulte erleben. Ich würde das das optimistische versus das pessimistische Argument nennen. Wir werden darauf aber keine Antworten bekommen, bis sich das nicht in Echtzeit entwickelt hat.

Niemals hätte er sich vor einigen Jahren gedacht, dass die FPÖ bei einer Wahl auf 46 Prozent kommt, sagt Goodwin.
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STANDARD: Aber wer gewinnt?

Goodwin: Menschen sind sehr anfällig für externe Ereignisse. Die Agenda ändert sich schnell. Jetzt sind es die Migration und die Flüchtlingskrise. In den 80ern und 90ern haben wir über die Wirtschaft und Arbeitslosigkeit geredet. Jetzt sind die Identitätsthemen hoch oben auf der Agenda, und das heizt den Konflikt der beiden Gruppen an. Herauszufinden, wer den Kampf gewinnen wird, ist sehr schwierig. Eine Debatte darüber haben wir noch dazu noch gar nicht geführt. Was kommt nach dem Populismus?

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Goodwin: Was passiert, wenn die Wähler nicht bekommen, was sie wollen? Wenn Trump den Rust Belt nicht wiederaufleben lässt? Wenn die FPÖ-Wähler keine starke Reduktion der Migration sehen oder die Flüchtlingskrise nicht gelöst wird? Oder die Brexit-Wähler kein Ende des freien Personenverkehrs in der EU sehen oder noch mehr Globalisierung auf sie zukommt? Nichts davon wissen wir, uns bleibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen abwarten.

STANDARD: In dieser Lesart würden wir also nicht den letzten Aufschrei der Konservativen sehen, sondern er würde noch viel lauter werden?

Goodwin: Die große Makrofrage ist: Waren Trump, der Brexit und Le Pen nur der Anfang, oder sind sie das Ende? Unsere Bindung an Mainstream-Parteien ist im Vergleich zu unseren Eltern und Großeltern sehr schwach geworden. Die traditionelle Loyalität mit Parteien ist zusammengebrochen. Wir werden heute stark von Themen beeinflusst. Das macht alles volatiler. Ich bin aber nicht zu pessimistisch. Aber eine eindeutige Antwort darauf wird nur die Zeit geben. Hätten Sie mir vor 15 Jahren gesagt, dass die FPÖ in Österreich 46 Prozent holt, Trump Präsident ist und die Briten die EU verlassen, hätte ich das auch für sehr unplausibel gehalten. Was wir sicher nicht sehen, ist die schnelle Rückkehr zu einer stabilen Mainstream-Mitte-Politik.

STANDARD: Was empfehlen Sie Mitte-Politikern in so einem Umfeld? Migration reduzieren und stark die nationale Identität betonen?

Goodwin: Die Forschung zeigt, dass sich die Politik in Europa seit 1980 nach rechts verschoben hat. Mainstream-Parteien versuchen, auf die politischen Außenseiter zu reagieren. Wir sind besessen von der Idee, dass Populisten Wahlen gewinnen und an die Macht kommen müssen, damit sie etwas verändern. Sie haben aber auch Einfluss ohne Ämter. Schauen Sie sich das niederländische Burka-Verbot an, eine Reaktion auf Geert Wilders. Oder Nicolas Sarkozy, der vom Verlust der französischen Identität spricht. Das ist der Beginn von etwas, das wir stärker sehen werden: dass die Parteien weiter nach rechts rücken. (Andreas Sator, 25.7.2017)