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OSZE-Beobachter an der Kontaktlinie zwischen ukrainischen Streitkräften und prorussischen Rebellen.

Foto: Reuters

In den vergangenen Tagen versammelten sich in der Wiener Hofburg dutzende Diplomaten und Militärexperten aus ganz Europa, Nordamerika und dem postsowjetischen Raum zu einem Sicherheitsdialog und der jährlichen Überprüfung der Rüstungskontrollmechanismen und vertrauensbildenden Maßnahmen in der euroatlantischen Region.

Sie trafen sich zu einem für die europäische Sicherheit entscheidenden Zeitpunkt. Die Rückkehr geopolitischen Wettbewerbs stellt das Kooperationsmodell, das sich mit Ende des Kalten Krieges in Europa etabliert hat, infrage. Zwischenstaatliche Beziehungen werden zunehmend wieder als Nullsummenspiel betrachtet. Wachsende Polarisierung, vermindertes gegenseitiges Vertrauen sowie die drastisch verschlechterte Vorhersehbarkeit militärischer Aktivitäten erhöhen sicherheitspolitische Spannungen in Europa.

Diese negativen Trends werden durch divergierende Bedrohungswahrnehmungen weiter vertieft. Der Ausbau von Nato und EU wurde von Moskau als destabilisierend und bedrohlich empfunden. Russland reagierte mit einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben und einer Ausweitung von Militärübungen. Diese Schritte sah der Westen als aggressiv. Man antwortete mit einer Erhöhung der militärischen Präsenz und Aktivitäten der Nato in Gebieten in der unmittelbaren Nachbarschaft Russlands. Diese Schritte in Richtung einer weiteren Eskalation werden durch eine zunehmende Anzahl von gefährlichen Zwischenfällen und Beinahzusammenstößen zwischen Militärflugzeugen oder -schiffen verstärkt.

In diesem Klima der Unberechenbarkeit und Ungewissheit besteht ein hohes Risiko, in einen Teufelskreis der Eskalation zu geraten, der letztlich zu ernsten Konflikten führen könnte. Diese Dynamik kann man anhand der Ukrainekrise verdeutlichen. Völlig unterschiedliche Narrative über die Krise und ihren Ursprung befördern Misstrauen und Spannungen, die einen zunehmenden Druck aufbauen, zu militärischen Gegenmaßnahmen zu greifen.

Minsk kommt nicht voran

Diese Krise hat die Säulen des Sicherheitssystems nach dem Kalten Krieg schwer erschüttert und den weiteren Bestand unseres auf Regeln basierenden Systems zwischenstaatlicher Beziehungen in Zweifel gezogen. Die Umsetzung der Minsk-Vereinbarungen zur Lösung des Ukrainekonflikts geht nicht voran, und in den letzten Monaten haben wir eine stetige Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen im Donbass erlebt, die wiederum mit dem Risiko einer weiteren Eskalation einhergeht.

Was können wir also tun, um erneut ein Klima der Stabilität und Sicherheit in Europa zu schaffen?

Während des Kalten Krieges war das Schlüsselkonzept für die Aufrechterhaltung einer strategischen Stabilität die Schaffung einer weitgehenden "Parität" zwischen den Militärblöcken. Im Rahmen von Verhandlungen unter dem Dach der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), nunmehr die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), hat man die Bestände beider Seiten in den unterschiedlichen Kategorien konventionell-militärischer Ausrüstung miteinander verglichen und regulierte dann ihre Anzahl und territoriale Verteilung in einer ausgewogenen Weise. Es wurde zudem ein komplexes System zur Regelung militärischer Aktivitäten entwickelt, um Transparenz und Vorhersehbarkeit zu gewährleisten, Vertrauen aufzubauen und Fehleinschätzungen zu vermeiden. Dieser quantitative Ansatz basierte weitgehend auf Symmetrieprinzipien. In der Tat war Symmetrie die Grundbedingung für das Gleichgewicht der Kräfte.

Heute aber, in einem Umfeld, in dem gegenseitiges Vertrauen zunehmend fehlt, wird die Wirksamkeit dieser Maßnahmen rasch erodiert. In unserer multipolaren Welt ist Symmetrie nicht mehr der entscheidende Faktor: Die alten Blöcke sind verschwunden oder haben sich stark gewandelt, die Art, wie Konflikte ausgetragen werden, hat sich verändert, und die Militärtechnologie entwickelt sich rasant. Während die alten Arrangements zunehmend obsolet werden, ist die vorherrschende Nullsummenmentalität selbst zum Hindernis für die dringend benötigte Reform der Instrumentarien geworden. Mehr denn je müssen wir miteinander in Dialog treten, um eine strategische Stabilität wiederherzustellen. Somit besteht aktuell die wichtigste Herausforderung darin, darauf zu achten, dass die bestehenden Asymmetrien zwischen Streitkräften, militärischen Aktivitäten, Truppenstationierungen und Waffensystemen nicht zu einer weiteren Destabilisierung führen. Wir müssen jetzt anfangen, uns eine "asymmetrische Stabilität" zu denken und zu erarbeiten.

In der heutigen europäischen Sicherheitslage bewahrheitet sich: Wahrnehmungen haben einen solchen Einfluss auf die Realität, dass sie in gewisser Weise selbst zur Realität werden. Wir brauchen einen neuen Ansatz, der es uns ermöglicht, sowohl unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen als auch militärische Asymmetrien in unserer Sicherheitspolitik zu berücksichtigen. Und wir müssen neue Maßnahmen entwickeln, da gegenwärtige Instrumente zu versagen drohen.

Wie sollten diese also aussehen? Sie sollten sich zunächst auf praktische Fragen der Risikominderung konzentrieren und unter Einbeziehung der Anliegen aller Beteiligten entwickelt werden. Sie sollten außerdem auf den Grundsätzen der Vorhersehbarkeit und Transparenz beruhen, aber auch auf Bedrohungswahrnehmungen und andere qualitative und politische Erwägungen Rücksicht nehmen, und nicht zuletzt auch quantitativen Parametern Rechnung tragen. Russland könnte sich verpflichten, Militärübungen in Grenznähe bestimmter Nachbarländer wie den baltischen Staaten einzuschränken und für zusätzliche Transparenz im Hinblick auf kurzfristig anberaumte Militärübungen in der weiteren Region zu sorgen. Als Gegenleistung könnte seitens der Nato mehr Information und Transparenz über die Stationierung und Aktivitäten von Nato-Streitkräften zur Verfügung gestellt werden.

Gegenseitige Beobachtung

Ein System der gegenseitigen Beobachtung relevanter Aktivitäten könnte eingeführt werden, um Vertrauen zu schaffen. Ähnliche Maßnahmen könnten auch für die Region um Kaliningrad greifen. Ein System des Informationsaustauschs über militärische Bewegungen, das in bestimmten Regionen wie der Ostsee und dem Schwarzmeergebiet auch Marinebewegungen abdecken würde, könnte dazu beitragen, Spannungen abzubauen und das Risiko von Zwischenfällen zu reduzieren. Es wäre wünschenswert, einen kooperativen Mechanismus zur Sicherstellung von sofortigen Konsultationen und Deeskalationsmaßnahmen einzuführen, der im Falle eines militärischen Vorfalls oder eines sogenannten Close Encounter aktiviert werden könnte.

Bleibt die Frage, wie wir unterschiedliche Wahrnehmungen und Sicherheitsempfinden in unsere Strategien einfließen lassen können. Kann man auf asymmetrischer Basis neue Balancen finden? Ist es uns möglich, wieder über das große Ganze nachzudenken, unsere Unterschiede zu akzeptieren und einen Weg zu finden, diese in einer neuen Sicherheitsordnung aufgehen zu lassen? Und ist es denkbar, auf der Grundlage einer "asymmetrischen Stabilität" neue Wege zu gehen?

Dafür müssen pragmatische Lösungsansätze gefunden werden. (Lamberto Zannier, 30.6.2017)