Bild nicht mehr verfügbar.

Wien hat 121 Leihradstationen, London 774 und Paris gar 1226. Interaktive Visualisierungen, wie sie der Bike Sharing Atlas bietet, offenbaren überraschende Zusammenhänge, etwa hinsichtlich Londoner Pendler und Wiener Bequemlichkeit.

Foto: Picturedesk / Kurt Molzer

Wien – In Wien fährt man mit dem Fahrrad gerne bergab. Viel lieber als bergauf. An City-Bike-Fahrradständern auf größerer Seehöhe -etwa in den Bezirken westlich des Stadtzentrums – sind die Räder gerne vergriffen, nicht so sehr bei tieferliegenden Anlagen, wo sie dann zurückgegeben werden.

Die Einsicht in das Leben der Wiener Fahrradfahrer kann aus den Visualisierungen des Bike Sharing Atlas bezogen werden. Die Online-Plattform zeigt exemplarisch, wie große und komplexe Datenmengen verknüpft und veranschaulicht werden können, um Muster, Hypothesen oder neue Erkenntnisse ableiten zu können.

Im Bike Sharing Atlas laufen die im Netz frei verfügbaren Daten zum "Füllstand" von Leihradstationen weltweit zusammen – Daten, die üblicherweise von den lokalen Anbietern genutzt werden, um über ihre Apps die aktuelle Verfügbarkeit der Räder anzuzeigen. Michael Sedlmair und seine Kollegen Michael Oppermann und Torsten Möller aus der Forschungsgruppe Visualization and Data Analysis der Fakultät für Informatik der Universität Wien haben die Open-Data-Sätze aus mehr als 460 Städten angezapft, um sie für weitere Analysen zum Mobilitätsverhalten, zur Stadtplanung oder für die Untersuchung soziologischer Aspekte zugänglich zu machen: von Wien bis Seattle, von São Paulo bis Taipeh.

Ein Beispiel: In Melbourne, Dienstagabend, 18 Uhr Ortszeit, sind an der Southern Cross Station 17 Räder verfügbar, zehn der Stellplätze sind leer. Die Echtzeitdaten zur Benutzung aller 21.000 Stationen weltweit werden alle 15 Minuten aktualisiert. Eine durchschnittliche Benutzung jeder Station im Tagesverlauf kann abgerufen werden. An der Melbourner Southern Cross Station sind vormittags etwa weniger Räder verfügbar als am Abend.

Londons Fahrradpendler

In der Zusammenschau der Benutzungsdaten aller Stationen einer Stadt gewinnen die Daten an Aussagekraft. Wählt man etwa in London mit dem entsprechenden interaktiven Werkzeug auf der Online-Plattform alle Stationen aus, die in der Nacht voll und am Tag leer sind, leuchten vor allem jene in den Außenbezirken auf. "Das ist darauf zurückzuführen, dass in London die Leihräder im starken Ausmaß zum Pendeln in die inneren Bezirke verwendet werden", erklärt Sedlmair.

Foto: Screenshot

In Barcelona kann an der Nutzung der Leihräder die Mittagspause erkannt werden, in Mexiko-Stadt unsichere Bezirke. Die Verbindung mit Wetterdaten zeigt in vielen Städten einen klaren Zusammenhang zwischen höheren Temperaturen und ausgeborgten Rädern. Und in Wien zeigt die Zusammenführung mit den Daten zur Seehöhe die Vorliebe fürs Abwärtsrollen.

Sedlmair hat den Bike Sharing Atlas vergangene Woche bei der Wiener Informationstechnologiekonferenz Imagine präsentiert. Die gemeinsam mit dem Austrian Computer Science Day veranstaltete Tagung wurde vom Verkehrs- und Technologieministerium, der Förderagentur FFG und Informatik Austria organisiert. Für den Informatiker sind die interaktiven Visualisierungen zu den Leihrädern nur ein Anfang für ein umfassendes Analysewerkzeug im Bereich der Mobilität. Als Nächstes könnten etwa Daten von Car-Sharing-Anbietern in das System Eingang finden. Auch hier sollen überraschende Verbindungen und bisher verdeckte Zusammenhänge aufgezeigt werden.

Nicht nur Stadtplaner, sondern auch Soziologen sind eine Zielgruppe für die Visualisierungen. Gemeinsam mit Wissenschaftern verschiedener Bereiche diskutieren Sedlmair und Kollegen, welche Aufbereitungsformen, welche Fragestellungen, Algorithmen und Paarung von Variablen in Zukunft noch interessant werden könnten.

Analyse großer Datenmengen

Die automatisierte Zusammenfassung und interaktive Visualisierung gewinnt in einer Zeit, die von der Generierung großer Datenmengen geprägt ist, rapide an Bedeutung. In der personalisierten Medizin, in der Klimaforschung oder in der Analyse von Konsumentendaten findet sie vielfältige Anwendungsbereiche. Als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine können die Visualisierungen helfen, die komplexer und autonomer werdende Arbeitsweise von Algorithmen nachvollziehbar zu machen.

Wie in neuronalen Netzwerken ein Ergebnis zustande kommt, bleibt den Nutzern beispielsweise zumeist verborgen. Erkennt der Algorithmus ein Schiff auf einem Bild anhand des Schiffes selbst oder aufgrund des Wassers, das es umgibt? Interaktive Visualisierungen in diesem Bereich könnten dazu dienen, die "Blackbox anzubohren", die solche Systeme darstellen, so Sedlmair. Man benötigt entsprechende Werkzeuge, um die Systeme validieren zu können.

Letztendlich sollen die visuellen Übersetzungshilfen zwischen Mensch und Computer Technologien auch wieder demokratischer machen. "Unsere Welt wird immer komplexer. Unsere Informationssysteme bestehen aus immer komplexeren Modellen, die nur eine kleine Anzahl von Menschen nachvollziehen können", sagt Seldlmair. "Wir wollen dem Menschen die Möglichkeit geben, in diese Datenwelt wieder eintauchen zu können." (Alois Pumhösel, 4.7.2017)