München – Unter dem Stichwort "kambrische Explosion" wurde lange Zeit eine enorme Zunahme der Artenvielfalt bezeichnet, die zu Beginn des Kambriums vor gut 540 Millionen Jahren stattfand. In den vergangenen Jahrzehnten wurde diese Vorstellung allmählich relativiert: Die bis heute existierenden Tierstämme kamen damals nicht binnen kürzester Zeit wie aus dem Nichts. Später gemachte Fossilienfunde zeigten, dass viele dieser Stämme ältere Wurzeln hatten – es sind bloß nicht so viele Überreste aus diesen früheren Erdzeitaltern erhalten geblieben.

Eine Studie im Fachjournal "Scientific Reports" kam nun wieder auf etwas zurück, das vielleicht nicht ganz ein Explosionsszenario ist, aber auf eine immer noch überraschend schnelle Entwicklung hinweist: Es habe eine relativ kurze Phase gegeben, in der die Evolution große Sprünge machte. Diese Phase habe aber deutlich früher stattgefunden – und sogar noch bevor die Erde die vielleicht größte Katastrophe erlitt, seit es vielzelliges Leben gibt.

Die molekulare Uhr

Martin Dohrmann und Gert Wörheide von der Universität München versuchten mithilfe der sogenannten molekularen Uhr zu berechnen, wann die ältesten Tierstämme entstanden. Das sind Schwämme, Nesseltiere, Rippenquallen und Plattentiere, die am wenigsten bekannten und zugleich am einfachsten gebauten aller Vielzeller.

Das Prinzip der molekularen Uhr beruht darauf, dass sich im Verlauf der Evolution genetische Veränderungen im Erbgut ansammeln. Spalten sich zwei Stammeslinien von einem gemeinsamen Vorfahren ab, unterscheidet sich ihr Erbgut umso mehr, je länger die Trennung zurückliegt. Die Forscher nutzten einen Datensatz, der 128 in Proteine übersetzte Gene von 55 Arten enthält und Daten aller Großgruppen der Tiere umfasst, insbesondere aus den ältesten Stämmen.

Der Winter des Lebens

Die Auswertung datierte den Ursprung der vielzelligen Tiere auf das Neoproterozoikum, einen mehrere Zeitalter umfassenden Abschnitt der Erdgeschichte, der vor einer Milliarde Jahre begann und mit dem Beginn des Kambriums endete. Ein besonders auffälliges Zeitalter innerhalb dieses Abschnitts war das Cryogenium vor 850 bis 635 Millionen Jahren. In diesem Zeitalter kam es zu mindestens zwei Eiszeiten, die bedeutend umfangreicher und länger als die Eiszeiten der Erdneuzeit waren. Populär wurde diese Phase unter dem Schlagwort "Schneeball Erde".

Überraschenderweise führte die molekulare Uhr Dohrmann und Wörheide zum Ergebnis, dass sich die ersten Vorfahren der Zweiseitentiere, der sogenannten Bilateria, nicht nach und nach über sehr lange Zeiträume von einem gemeinsamen Vorfahren abgespalten haben. Stattdessen sei dies innerhalb von nur etwa 50 Millionen Jahren geschehen – und noch bevor die Erde vor 720 Millionen Jahren in ihre erste fast vollständige Vereisung eintrat.

Zu den Bilateria gehören Wirbeltiere ebenso wie Gliederfüßer, Weichtiere, Plattwürmer und viele andere. Wenn diese den Planeten bis heute prägende Tiergruppe schon so früh entstanden ist, wäre das ein weiteres Indiz dafür, dass die Erde im Cryogenium doch nicht von Pol zu Pol zugefroren war, sondern zumindest in manchen Regionen Bedingungen bot, mit denen auch komplexere Lebensformen zurechtkamen. (red, 25. 6. 2017)