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Massimo Bottura macht kurz Pause in der Nähe seines Restaurants Osteria Francescana in Modena.

Foto: picturedesk.com / AGF / Serena Campanini

Im Eingangsbereich der Grazer Stadthalle hat sich eine große Menschentraube versammelt. Junge Köche, gestandene Gastronomen und alle, die sonst noch ein Selfie oder ein Autogramm ergattern wollen, warten geduldig auf Massimo Bottura. Der Spitzenkoch wird verehrt wie ein Superstar. Für Gespräche hat er jetzt allerdings keine Zeit. Der sportliche Italiener mit Kochjacke, Jeans und Sneakers muss sich auf seine Bühnenshow bei den diesjährigen Chefdays, einem jährlich stattfindenden Foodsymposium in Graz, vorbereiten. Bottura kochte bereits für Barack Obama, Angela Merkel und den schwedischen König. Er ist ein gefragter Mann, der – wie es scheint – genau abwägt, was er wann macht.

Die gerade einmal zwölf Tische in seinem Restaurant, der Osteria Francescana in Modena, sind über Monate ausgebucht. Und trotzdem findet er noch Zeit, gemeinnützige Projekte voranzutreiben. So will er gegen Verschwendung ankämpfen und den Welthunger stillen. Dabei wird er von vielen Spitzenköchen unterstützt. Als eine Reihe von Erdbeben 2012 die Emilia-Romagna erschütterte, gingen über 300.000 Laibe Parmesan zu Bruch. Bottura nutzte damals seine Popularität für den guten Zweck und erfand das "Risotto cacio e pepe", für das er ein Kilo Parmesan verwendete. Tausende Menschen kochten es nach, bis Ende des Jahres der zerstörte Parmesan komplett verkauft war. Dieses Engagement hat dem Spitzenkoch weltweit Sympathiepunkte eingebracht.

Foto: Callo Albanesse & Sueo

Bei den Chefdays in Graz hängen die Fans an seinen Lippen und stürzen sich, mit Kameras bewaffnet, auf eines seiner bekanntesten Gerichte – "Insalata di Mare". Seine Interpretation des Caesar Salad ist eine Anordnung von Salatblättern, in deren Inneren Tintenfisch und Chips mit unterschiedlichen Meeresaromen stecken. Am Schluss besprüht er den Teller mit Tintenfischtinte. Diese Art, traditionelle Gerichte neu zu interpretieren, stößt nicht immer auf Zustimmung.

"Insalata di Mare" besteht aus Tintenfisch, der von Salatblättern und aromatisierten Chips umhüllt ist.
Foto: Osteria Francescana

STANDARD: Sie haben einige Kritiker, die sagen, dass Sie die italienische Tradition nicht wertschätzen. Was sagen Sie selbst dazu?

Bottura: Das sind Menschen, die nichts über Essen wissen. Irgendwann wurden Traditionen geschaffen. Damals waren es Innovationen. Erst über die Jahre wurden sie zu Traditionen. Wenn Kritiker das sagen, ohne meine Küche zu kennen oder ohne jemals meine Tagliatelle al ragù probiert zu haben, muss ich ihnen widersprechen. Der Umgang mit den Produkten, die ich heute verwende, ist wesentlich respektvoller, als irgendeine traditionelle Zubereitung es jemals war. Wenn ich ein Produkt habe, verwende ich es mit sehr viel Respekt.

STANDARD: Neue Techniken helfen Ihnen dabei?

Bottura: Ja, Sous-vide-Garen zum Beispiel ist eine Technik, die das Fleisch sehr zart macht. Die Vitamine und Proteine bleiben trotzdem erhalten. Eine Tomate als Tomate zu essen – ist das Tradition? Mit unserem Ragout mit Tagliatelle zeigen wir allen Einwohnern der Emilia Romagna, dass wir bessere Pasta machen können als ihre Großmütter.

STANDARD: Sie wurden letztes Jahr auf Platz eins der "World's 50 Best Restaurants" gewählt. Wie wichtig sind Ihnen solche Auszeichnungen?

Bottura: Ich war fünf Jahre lang unter den drei besten Restaurants der Welt. Natürlich ist es wichtig, gesehen zu werden. Ich halte es aber für völlig kindisch, über diese Platzierungen nachzudenken. Es gibt wirklich wichtigere Dinge, über die ich nachdenke in meinem Leben.

STANDARD: Zum Beispiel?

Bottura: Mein Restaurant ist eine Art Ideenlabor. Die Ideen, die dort entstehen, transportieren wir durch Kultur, Wissen und Verantwortungsbewusstsein. Wenn man keine Kultur hat, dann schaut man auf irgendwelche Nummern in der Liste der besten Restaurants. Wenn man Kultur besitzt, versteht man hingegen, dass Verantwortungsbewusstsein bedeutet, all das mit anderen Menschen zu teilen. Wenn man das geschafft hat, muss man etwas von seinem glücklichen Leben an andere zurückgeben.

STANDARD: Sie sprechen von Ihrer Organisation Food for Soul?

Bottura: Genau. Über 800 Millionen Menschen leben derzeit in Armut. Millionen von Menschen sind übergewichtig, und Milliarden von Lebensmittel werden jedes Jahr weggeworfen. Die einzige Lösung, den Planeten zu ernähren, ist gegen die Verschwendung anzukämpfen. Das funktioniert nur mit Kreativität, Schönheit und der Zeit, die Köche für dieses Projekt zur Verfügung stellen. Kein einziger Koch, den ich gefragt habe, bei diesem Projekt mitzumachen, hat Nein gesagt.

Wenn Bottura ruft, dann kommen die Kollegen und bieten ihre Unterstützung an. Gemeinsam mit seiner Frau Lara Gilmore gründete er die Organisation Food for Soul. Dabei geht es darum, aus übriggebliebenen Lebensmitteln Gerichte für Bedürftige zuzubereiten. Im Rahmen der Mailänder Expo 2015 eröffnete er das Refettorio Ambrosiano, eine Art Speisesaal. Seine Idee war es, Küchenchefs aus der ganzen Welt nach Mailand zu holen, um mit den überschüssigen Produkten der Länderpavillons Menüs zu kochen. Mehr als 65 Spitzenköche wie beispielsweise Alain Ducasse, Daniel Humm und Ana Ros haben die Aktion damals unterstützt.

Der Speisesaal in einem ehemaligen Theater im Armenviertel Greco wurde von der polytechnischen Universität renoviert. Künstler wie Mimmo Paladino und Giuseppe Penone spendierten Kunstwerke, und Designer entwarfen eigene Tische. Bottura wollte einen Wohlfühlort schaffen, der auch den Sinn für Kunst anspricht, wie er sagt. Weitere Aktionen wie das Refettorio Gastromotiva bei den Olympischen Spielen in Rio folgten. Seit Anfang Juni läuft das Projekt Food for Soul Kitchen in London, bei dem mehr als 30 Spitzenköche von Montag bis Freitag für Bedürftige kochen.


STANDARD:
Für Köche sind solche Aktionen auch gute PR.

Bottura: Ich mache das nicht, um mein Image zu verbessern oder Geld zu verdienen. Das habe ich nicht notwendig. Lieber nutze ich mein Image, um Geld für dieses Projekt zu sammeln und hoffentlich bald überall ein Refettorio eröffnen zu können. In Rio war es ja sehr erfolgreich. Jetzt haben wir das Gleiche in London gemacht. Die Rockefeller-Stiftung hat uns eine große Förderung gegeben, um vielleicht bald das nächste in den USA zu eröffnen.

STANDARD: In der Spitzengastronomie geht es oft um Perfektion. Ihr berühmtes Dessert "Oops! I dropped the lemon tart" ist entstanden, weil Ihrem Souschef Takahiko Kondo beim Anrichten die Tarte auf den Boden fiel. Sie haben sie trotzdem serviert und mit der Perfektion gebrochen. Warum?

Bottura: Ich denke, wenn man das Perfekte rekonstruiert als Imperfektion, transportiert man mehr Emotionen. Das Wichtigste ist der Gaumen. Ich bin der Koch und muss in einen Dialog mit dem Gaumen des Gastes treten. Viele Gerichte sind verspielt und sollen durch die Augen eines Kindes gesehen werden. Als Kind hat man ein offenes Herz, und alles, was deine Mutter kocht, ist großartig. Diese Emotionen will ich mit meinem Essen transportieren. Dafür muss ich direkt in dein Herz treffen. Es gibt tausende Restaurants auf der ganzen Welt, in denen man hervorragendes Essen bekommt. Aber Emotionen zu transportieren ist das Schwierigste.

"Oops! I dropped the lemon tart" ist durch einen Unfall entstanden. Heute ist es Botturas bekanntestes Dessert.
Foto: Osteria Francescana

STANDARD: Viele junge Köche eifern Ihnen nach. Was raten Sie ihnen, um irgendwann auch ein Spitzenkoch zu werden?

Bottura: Die Frage, die man sich immer stellen muss, ist: Wer bin ich? Nur wenn ich weiß, wer ich bin, kann ich ein Spitzenkoch werden. Nur wer sich selbst kennt, kennt auch seine Limits. Allein geht es nicht. Man braucht ein gutes Team. So ein Team zu bilden ist das Schwierigste überhaupt. Du brauchst die besten Mitarbeiter aus der ganzen Welt. Jeder möchte natürlich irgendwann sein eigenes Restaurant eröffnen. Aber man muss es langsam angehen, man muss wachsen, wie ein Baum, und gut verwurzelt sein. Ich empfehle jungen Köchen immer, viel zu reisen, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, ohne dabei ihre Wurzeln zu vergessen.

STANDARD: Wie wollen Sie das Bewusstsein junger Köche in Zukunft verändern?

Bottura: Ich möchte gern eine Universität in der Nähe von Modena eröffnen. Es gibt dort ein tolles Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert. Er steht nahe der Landwirtschaftsschule. Dort sollen Studenten lernen, wie man Lambrusco macht, Parmesan herstellt oder Balsamico-Essig braut. Ich möchte den Studenten nach der Ausbildung die Möglichkeit geben, ihr Wissen auszubauen, und die Bauern der Zukunft mit den Köchen der Zukunft vereinen. Mein Wunsch ist es, dass Bauern mehr über Geschmack lernen und Köche mehr über den Boden, auf dem Dinge wachsen. So entsteht mehr Respekt für die Produkte, die man in der Küche verwendet.

STANDARD: Was muss ein junger Koch mitbringen, um bei Ihnen einen Job zu bekommen?

Bottura: Erst einmal ist er auf einer sehr langen Warteliste. Der Lebenslauf ist zwar wichtig, ich schaue aber auf andere Dinge. Ich muss das Funkeln in den Augen sehen, und ich muss spüren, dass jemand das wirklich will. Manchmal lade ich junge Leute zu mir in die Küche ein, um herauszufinden, ob sie die Leidenschaft mitbringen.

Die Seezunge wird als "Mediterranean Sole" mit hauchdünnen Blättern aus Wasser und Meersalz serviert.
Foto: Osteria Francescana

Dieses Funkeln in den Augen entdeckt man auch bei Bottura selbst. Nämlich dann, wenn er über zeitgenössische Kunst spricht. Seine Ehefrau, die er in New York kennenlernte, weckte in ihm die Begeisterung dafür. Er sammelt Werke von Maurizio Cattelan, Michelangelo Pistoletto und Damien Hirst. Selbst würde er sich nicht als Künstler bezeichnen. Neben Bildern und Installationen sammelt er auch Vinylplatten. Seine Plattensammlung umfasst mittlerweile rund 12.000 Stück. Und der Italiener umgibt sich gern mit Luxusmarken wie Gucci, Bottega Veneta oder Maserati.


STANDARD:
Sie waren vor kurzem in Wien bei einer Veranstaltung von Gucci. Wie kommt es zu Kooperationen mit den Luxuslabels?

Bottura: Ich mag es, mit Firmen wie Maserati oder Gucci zusammenzuarbeiten. Diese Firmen legen großen Wert auf Qualität. Alessandro Michele (Gucci) und ich denken gleich. Auch er sieht sich immer wieder die Geschichte von Gucci an und hinterfragt sie kritisch. Er vereint die traditionelle Marke mit seinen neuen Ideen. Und genau das mache ich in meinem Restaurant auch. Außerdem waren wir zusammen in der Schule und Sitznachbarn.

STANDARD: Wenn Sie nicht im Restaurant stehen oder neue Projekte planen, was machen Sie?

Bottura: Das kann ich nicht sagen, weil ich ständig mit Essen, Kunst und Musik lebe. Das ist mein Leben, meine Leidenschaft. Jeder einzelne Moment und jeder Ort kann eine Inspirationsquelle für mich sein. Man muss immer offen sein für das Unerwartete. (Alex Stranig, RONDO, 23.6.2017)

Massimo Botturas Begrüßung bei den Chef Days 2017 in Graz.
derStandard.at

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