Kundry (Magdalena Anna Hofmann) in Bernhard Langs "Mondparsifal", als wäre sie dem "Nibelungen"-Film von Fritz Lang entsprungen.

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Das neue Festivalzentrum Performeum.

Foto: Inés Bacher

Lois Selasie Arde-Acquah präsentierte mit "Free Slave?" eine der formal stärksten Arbeiten im Performeum.

Foto: Inés Bacher

Wien – US-Literaturwissenschafter George Steiner (88) ist ein beängstigend kluger Mann. Ihm träumte einst von einer Gesellschaft, in der "jedes Gespräch über Kunst, Musik und Literatur verboten" sei. Steiner wollte den Menschen nicht etwa den Mund verbieten. In seinem Gedankenexperiment sollten die Kunstwerke nur kommentarlos, aus eigenem Recht, vor dem Urteil der Welt bestehen.

Zum Schweigen aufgefordert waren dementsprechend alle Aufbereiter und Zwischenträger. Deren "Diskurse" seien an die Kunstwerke lediglich angehängt und somit entbehrlich. Aus einer solchen gegen-platonischen Republik wären alle Kritiker zu verbannen. Das Programm der Wiener Festwochen 2017 konnte George Steiner, als er 1989 Von realer Gegenwart veröffentlichte, nicht gut kennen. Er hätte sonst Tomas Zierhofer-Kin womöglich aus dessen eigenem Festivalbüro ausschließen lassen.

Kaum jemals zuvor war das Programm von Wiens Vorzeigefestival in eine dickere, undurchdringlichere Diskurswatte eingepackt. Längst dürfen Artefakte und Kunstpraktiken nicht mehr für sich allein bestehen. Sie werden unermüdlich besachwaltet. Die europäische Kunstverwertung hat sich bis an die Zähne mit "postkolonialen" Redensarten bewaffnet. Ihre Sprecher überziehen das Tun und Lassen anderer, häufig nichteuropäischer Künstler mit Zeugnissen einer leerlaufenden Hypereloquenz. Kein Wunder, dass die Aufführungen darunter oft schmächtig wirken.

Form und Gehalt

Neue Erfahrungsmöglichkeiten wollte Zierhofer-Kin mit seinen ersten Festwochen bieten, starken Eindruck hinterließ aber kaum eine der Produktionen. Gewiss, anders waren sie. Allerdings oft mehr im Format (Haircuts by Children) als im Gehalt. Was Diskursivität behauptete, blieb oft in dieser Behauptung stecken. Schlagworte wurden präsentiert, kapitulierend vor den Mühen des Konstruierens und Feilens aber nur zu Halbgarem verfolgt. Übrig blieb manchmal wenig mehr als ein Abend mit Clubmusik.

Wer sich von den vollmundig-sperrigen Worten des Programmheftes nicht fernhalten ließ, wurde oft einer Leere dahinter gewahr. Als hätte man sich vor allem nach politischen oder soziologischen Schlagworten orientiert und weniger nach künstlerischen Maßstäben (Während ich wartete, Discotropic) oder jenen, die messen, wie ein Inhalt seinem Schauwert oder seiner Worthülse gerecht wird – etwa von den drei Allroundkuratoren ins Feld geschickten queeren Kampfbegriffen.

Der für weitere vier Saisonen berufene Festivalchef mag mit seiner Kritik am konventionellen Theater nicht ganz unrecht haben. Aber spannende Alternativen hat er nur bedingt anbieten können. Wenn ein Saal sich leerte, lag das weniger an einer Provokation von der Bühne denn an Langeweile.

Das Performeum

Dass einige der Festwochen-Produktionen nicht glückten, mag auch daran liegen, dass "Glücken" nicht ihr vordringlichstes Interesse war – oder gar nicht sein konnte. Die Tendenz weg von Anschauung hin zu diskursiver Kunstpraxis, die am Ende mehr Fragen offenbart als zu Beginn, sucht weniger "Gefallen" oder Virtuosität, sondern die Gedankenbewegung. Die Fahne hoch hielt zu diesem Zweck das Performeum, in dem eine schier unüberblickbare Fülle an Diskursanstößen geboten wurde. Diese waren kaum mehr als splitterhaft zur rezipieren und enthielten auch manche Leerstelle. Als Standort aber hat sich das Performeum gewiss als das bisher lebhafteste Festivalzentrum in der Geschichte der Wiener Festwochen behauptet.

Ausdruck des Paradigmenwechsels in der Kunst waren insbesondere "Überschreibungen", von denen manche allzu schwere Fracht trugen und deshalb scheiterten (z. B. Monika Gintersdorfers Mozart-Bearbeitung Die Entführung aus dem Serail). Aber genau an diesen Experimentierfeldern der darstellenden Kunst werden sich die Festwochen in den nächsten Jahren beweisen müssen.

Pop-schicke Inflation

Bei den vielen künstlerischen und den theorieverbundenen Veranstaltungen der Akademie des Verlernens und des Performeums wurden dem Publikum Begrifflichkeiten der Dekolonisierung aktiv näher gebracht. Die Queer-Partie brachte die Sexyness, jene der Postkolonialisten die Dringlichkeit mit. Diese Synergie war gut für den Veranstalter, für das Sortieren allerdings mussten die Besucher, wenn sie sich durch die lächerliche Inflation von pop-schick klingenden Anglizismen nicht abschrecken ließen, selbst sorgen.

Der seit gut zwei Jahrzehnten andauernde Streit darüber, wie postkoloniale Systemkritik zu verstehen sei, braucht jedenfalls eine europaspezifische Fortsetzung. Der in den USA übliche Rassenbegriff beispielsweise ist diesseits des Atlantiks nicht nur kontraproduktiv, sondern sogar gefährlich, ebenso wie die Bevorzugung des Identitäts- gegenüber dem Sozialdiskurs. Da müssen auch die Festwochen noch etwas dazulernen. Das ist eine alle Grenzen überschreitende, aber unbedingt nötige Mammutaufgabe. Denn leider hat Europa viel zu lange gezaudert, diese selbst anzupacken.

So spektakulär wie spekulativ

Im Bereich des Musiktheaters war Bernhard Langs Oper Mondparsifal ein smarter Versuch, Erwartungen bezüglich eines künstlerischen Ausnahmezustands zu wecken. Ein Festival braucht das. Den Komponisten Lang mit Künstler Jonathan Meese zusammengebracht zu haben, war jedoch so spektakulär wie spekulativ. Meese entführte als Regisseur ins Museum seiner popkulturellen Heldenfantasien.

Es war – bezogen aufs Operngenre – einerseits erfrischend. Die handwerklichen Defizite seiner subjektiven Spielerei ließen allerdings statt Operninnovation eher den Eindruck trägen Opernalltags aufkommen. Dennoch mögen neue Werke (in riskanter Konstellation) Teil einer Festwochen-Konzeption bleiben. Eine echte Erneuerung würde das Genre durchaus vertragen. (poh, wurm, afze, ploe, tos, 17.6.2017)