Protest gegen Premierministerin Theresa May im Zentrum von London.

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"Wir lassen uns von den turbulenten Ereignissen in London nicht aus der Ruhe bringen. Wir sind vorbereitet und jederzeit bereit. Die Verhandlungen über den EU-Austritt können jederzeit beginnen." Auf dieses Mantra lassen sich die Reaktionen in den EU-Institutionen wie auch in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten am Tag nach der Wahlniederlage der britischen Regierung bringen. Nicht Brüssel, Paris oder Berlin seien jetzt am Zug, sondern die britische Regierung, deren Premierministerin Theresa May durch die Ausrufung vorgezogener Neuwahlen die Unsicherheit, ja, das Chaos verursachte.

Folgerichtig ließ sich etwa EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Rande eines Besuches in Prag auf Spekulationen, ob die neue Lage zu einer Verzögerung oder am Ende gar zum "Exit vom Brexit" führen könnte, nicht einmal ansatzweise ein.

Laut EU-Vertrag muss der Austritt binnen zwei Jahren nach dem Antrag, also Ende März 2019, vollzogen werden, egal ob es eine Vereinbarung gibt oder nicht – es sei denn, alle EU-Regierungschefs beschließen einstimmig eine Verlängerung der Frist. Bevor man sich diese Frage nach einer Verlängerung der Verhandlungen über März 2019 hinaus stelle, müssten diese "erst einmal beginnen", erklärte Juncker. Seine Kommission und deren Chefverhandler Michel Barnier stünden jedenfalls "morgen früh um halb neun bereit". Junckers Sprecher sagte in Brüssel, er hoffe, dass man in Großbritannien bald "eine stabile Regierung" bilden werde. Die Kommission sei auf alles vorbereitet.

Der ironische Unterton kommt nicht von ungefähr. Denn aufgrund des Wahlergebnisses ist völlig klar, dass die neue britische Regierung in ihrer Verhandlungsposition schwächer sein wird als die bisherige; wobei auch noch fraglich ist, ob May langfristig die schmähliche Niederlage politisch überhaupt überlebt. Die Staaten der EU-27 und die Kommission warten seit dem Brexit-Referendum vor fast genau einem Jahr darauf, dass die Tory-Regierung mit sich selbst zurande kommt, endlich die Verhandlungen startet.

Klammheimliche Freude

Schon Ende Juni 2016 hatte der von May abgelöste Premier David Cameron angekündigt, dass seine Nachfolgerin den Prozess "binnen zwei, drei Monaten" starten werde. Seither hatte es immer wieder Verzögerungen in London gegeben. Als man sich dann Ende März doch geeinigt hatte, der Austrittsantrag gemäß Artikel 50 gestellt worden war, schien es, als sollten die Brexit-Gespräche Anfang Juni Realität werden.

Die EU-27-Regierungschefs beschlossen bei einem eigens einberufenen Gipfel in Brüssel die konkreten Bedingungen, voran die Sicherstellung der Rechte von EU-Bürgern in jeweiligen Gastländern. Aber May hielt nicht Wort. Deshalb glaubt man in Brüssel alles, was von Downing Street 10 verkündet wird, nur mehr mit großem Vorbehalt.

So ist es auch bei der jüngsten Aussage der Premierministerin, sie wolle nun mit den Abgeordneten der Demokratischen Union in Nordirland ein neues Kabinett bilden und – wie verabredet – ab 19. Juni mit Brüssel in die erste konkrete Gesprächsrunde gehen.

In aller Offenheit sprach nur Budgetkommissar Günther Oettinger aus, dass dieser Termin wackelt: "Ich bin nicht sicher", erklärte er in Brüssel. Erweiterungskommissar Johannes Hahn befand, dass das Wahlergebnis "das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen nicht leichter macht".

Der Ständige Ratspräsident Donald Tusk warnte in seinem "Glückwunschschreiben zur Wiederwahl" an May vor einem Scheitern und mahnte zur Eile. Was die Verhandlungen betreffe, sei "nur klar, wann sie enden müssen" – nicht aber, wann sie beginnen.

Die EU-27 versuchen also jeden Eindruck zu zerstreuen, sie würden den Brexit-Wunsch der Briten verwässern oder gar "umdrehen" wollen. Es wird eher komplizierter als einfacher werden. Dennoch macht sich eine gewisse Erleichterung darüber bemerkbar, dass Theresa May unter den neuen Bedingungen ihre früheren Drohungen gegen Brüssel mit einem "harten Brexit" kaum verwirklichen kann. Die EU strebte von Anfang an eine Einigung im Kompromiss an, Großbritannien soll auch als Drittland in Zukunft ein enger Partner bleiben.

So sollen nicht nur die Rechte der EU-Bürger, die auch nach dem Brexit in Großbritannien leben und arbeiten, abgesichert werden. Es geht um vier Millionen Menschen, drei aus den EU-27-Ländern, eine Million Briten, die in einem Land der EU-27 leben. Die Union beharrt auch darauf, dass London bis zu 100 Milliarden Euro an Kosten für bereits beschlossene gemeinsame Projekte über 2019 hinaus übernimmt.

Kein harter Brexit

Die britische Regierung hat diese bisher brüsk zurückgewiesen. May hat in der Wahlkampagne betont, dass sie lieber einen "harten Schnitt" mit der EU vollziehen werde, also auch den Austritt aus dem Binnenmarkt ohne Nachfolgevereinbarung, bevor sie die ihrer Ansicht nach weit überzogenen Forderungen der Union akzeptiere. Jetzt wird sie es billiger geben, auch aus Rücksichtnahme auf die innenpolitische Lage.

Denn nicht nur die Opposition von Labour, schottischen Nationalisten und den Liberaldemokraten haben ihre Forderungen, wie der Brexit verhandelt werden soll. Auch die nordirischen Abgeordneten wünschen sich eine Trennung im Konsens mit der EU, nicht zuletzt, um Grenzkontrollen zur Republik Irland zu verhindern. Der fertige Brexit-Vertrag muss 2019 im Unterhaus in London parlamentarisch ratifiziert werden, so wie vom Europäischen Parlament.

Das Ziel eines konstruktiven Austrittsvertrages, der den Schaden für beide Seiten in Grenzen hält, haben die EU-Regierungschefs in ihrem Verhandlungsauftrag an die Kommission festgeschrieben. Mit den Briten soll eine weitgehende Freihandelsvereinbarung ausgehandelt werden.

Bei diesem "weichen Brexit" könnte Großbritannien sich am Ende weiter stark am EU-Binnenmarkt beteiligen, ohne EU-Mitglied zu sein, oder auch bei Forschung und Entwicklung in der EU voll mitmachen, so wie das die Schweiz oder Norwegen als Nichtmitglieder bereits heute tun. Allerdings müsste London dann auch bereit sein, bestimmte Standards der EU zu akzeptieren.

All das ist Zukunftsmusik, solange Brexit-Verhandlungen nicht begonnen haben, man sich nicht über konkrete politische Ziele verständigen kann. Ein Brexit-Termin steht aber jedenfalls fest: Beim EU-Gipfel am 22. Juni wird May zur Lage berichten müssen. (Thomas Mayer, 9.6.2017)