Weder schmeckt er delikat, noch nutzt er den Zähnen. Doch manchmal kann der Lutscher als Trigger süßer Erinnerungen Dienste tun, auch für Christoph Winder.

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Christoph Winder ist ALBUM-Redakteur, schreibt Kolumnen, Einser-Kastln und Bücher. Diesen Sommer wird er an wechselnden Destinationen in einem Radius von 50 km rund um Wien urlauben.

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Nachträglich muss man es als einen großen Vorteil betrachten, seine Kindheitssommer am Bodensee verbracht zu haben, ganz logischerweise tat man dies, weil man am Bodensee wohnte und daher das Im-Bodensee-Baden eine völlig unhinterfragte Gepflogenheit aller Bodensee-Anrainer war (und immer noch ist). Ich habe den Bodensee und das Bregenzer Strandbad als Schauplätze vieler Kindheitssommer und Jugendsommer in Erinnerung, in einer Erinnerung, die, so hoffe ich, erst dann sterben wird, wenn auch ich sterbe.

Am frühen Morgen, wenn wir mit Sonnenschirmen und Picknickkörben ins Strandbad einrückten und die Liegebetten auseinanderklappten, war der Rasen noch taufeucht, aber die hölzernen Umkleidekabinen hatten sich schon mit der ersten Tageshitze angesogen und weckten ein mächtiges Vorgefühl der noch viel hitzigeren Sonnenglut, die tagsüber kommen würde. Der See leuchtete manchmal blau, öfter noch flaschengrün, und zur linken Hand erhob sich der surreale Scherenschnitt der Festspielbühne, die auf tief in den Seeboden gerammten Holzpfeilern ruhte. Es war verboten, sie anzuschwimmen und zu betreten, aber man tat es trotzdem und kletterte über rutschige, von Algen und Plankton überzogene Treppen, die bis ins Wasser hinunterreichten, auf die Bühne hinauf. Oben tat sich eine bizarre Freilufttheaterwelt auf, mit, je nach Fortgeschrittenheit der Spielsaison, erst halb aufgebauten oder schon halb abgerissenen Kulissen aus Teerpappe, Styropor, bemalten Pressspanplatten und anderen Accessoires aus der Trickkiste der professionellen Bühnenbauer.

Auf der besonnten Bühne brachten wir unsere geheimen Kinderspiele vor einem imaginären Publikum dar und schwammen hernach zurück zum Ufer. Romantisch war dies nicht immer. In den 1960er- und 1970er-Jahren war der Bodensee alles andere als sauber, und die Sorge, dass er "kippen" könnte, war begründet. Ehe ein breites ökologisches Bewusstsein aufkeimte, wurden Abwässer ungeklärt in den See eingeleitet, und nicht selten mussten wir unser Ziel durch dubioses Treibgut hindurch schwimmend ansteuern.

Der See war nur ein kleiner Ausschnitt einer nicht enden wollenden Sommerlandschaft. Tagelang stand die Luft in heißen Säulen über dem Land, und der Wunsch, dass die Zeit stillhalten und es ewig so bleiben werde, wie es war, verwandelte sich manchmal zu einer süßen und illusionären Gewissheit. Illusionär, weil die Zeit nicht stillhielt und meine Kindheit im Lauf der Jahre dahinschwand wie jede andere Kindheit auch. Nie habe ich sie intensiver empfunden als in diesen Sommern.

Es ist schon einige Zeit her, da hat mir meine Nichte in einem Akt rührender kindlicher Zuwendung einen Lutscher geschenkt, auf dem das Bild einer großen goldenen Sonne prangte, und das klebrige Ding rief auf der Stelle eine ganze Kaskade von Sommererinnerungen in mir hervor. Ich darf hinzufügen, dass mir Lutscher in jeder Art und Ausführung zuwider sind und ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, ein solches Objekt je verzehrt zu haben. Dass mich just dieses Ding in die warmen und wohligen Gefilde meiner Kindheitssommer zurückgebeamt hat, ist eines jener Rätsel, für die das Gedächtnis immer wieder gut ist. (Christoph Winder, RONDO, 14.6.2017)