Dass es in öffentlichen politischen und medialen Diskursen immer auch um Deutungshoheit bzw. Meinungsmanipulation geht, ist natürlich kein neues Phänomen. Es gibt bekanntlich eine lange Propagandageschichte. Neu ist jedoch, dass gegenwärtig Wahrheitstreue und Objektivität auch von einer Seite eingemahnt werden, von der man gerade das nicht erwartet hätte. Denn die postmoderne kulturwissenschaftliche Linke hat seit geraumer Zeit die Botschaft verkündet, dass es keine objektive Wahrheit gibt. "Wahrheit" ist dieser Auffassung zufolge eher ein ideologisches Konstrukt, das durch Herrschaftsverhältnisse oder Diskursmacht entsteht. Und es geht darum, die Herrschaftsverhältnisse oder die Diskursmacht im Sinne der eigenen, als segensreich qualifizierten Weltanschauung zu verändern.

Der in dieser Hinsicht durchaus einflussreiche amerikanische Philosoph Richard Rorty (1931-2007) meinte etwa, dass man letztlich nur überreden, nicht aber überzeugen könne. Es gibt keine Fakten, nur Interpretationen. Vor so einem Hintergrund mag es dann als ziemlich frivol erscheinen, wenn von dieser Seite her eine "postfaktische" Gesellschaft, "fake news" oder "alternative facts" als problematisch kritisiert werden. Und man könnte meinen, dass jetzt auch Rechtspopulisten endgültig auf den postmodernen Zug aufgesprungen sind. Der Postmodernismus involviert einen Irrationalismus, dessen Gefahren nun sehr deutlich werden (vgl. den Beitrag von Michael Hampe in Die Zeit, Nr. 52/2016)

Unsicherheitserfahrung

Letztlich verbirgt sich hinter diesen politischen Phänomenen auch ein philosophisches Problem. Das menschliche Leben ist geprägt durch vielfältige und zum Teil abgründige Erfahrungen von Unsicherheit. Das gilt auch für die menschliche Erkenntnispraxis, für unsere Suche nach Wahrheit. Gibt es die Möglichkeit, in unserem Erkenntnisstreben der Unsicherheit definitiv zu entkommen, also endgültig gesicherte Erkenntnisse über die Welt oder bestimmte Bereiche der Welt zu erlangen?

Der die Tradition der modernen Aufklärung bestimmende klassische Rationalismus hat sowohl in Gestalt des Intellektualismus als auch in der des Empirismus diese Frage im Rahmen eines Begründungsdenkens bejaht: Wirkliche Erkenntnis ist sicher begründbare Erkenntnis. Durch rationale Begründungsverfahren kann man die Wahrheit von Überzeugungen oder Theorien erkennen. William Kingdon Clifford (1845-1879) hat in "The Ethics of Belief" diese für den klassischen Rationalismus paradigmatische These vertreten: "(...) es ist immer, überall und für jeden falsch, etwas auf der Grundlage unzureichender Belege zu glauben."

Das klingt auf den ersten Blick sehr plausibel. Der in diesem Denken vorhandene Gewissheitsanspruch hat sich jedoch als utopisch erwiesen. Wenn Wahrheitserkenntnis, also die zutreffende Beschreibung und Erklärung von realen Sachverhalten, von der Möglichkeit zureichender Begründbarkeit abhängt, dann ist Wahrheitserkenntnis unmöglich. Denn die Forderung nach einer umfassenden, letzten Begründung ist unerfüllbar, weil sie an kein Ende kommt: Jede Begründung geht von Voraussetzungen aus, die ihrerseits begründungsbedürftig sind, usw. usf. Und wenn man das Begründungsverfahren an einer bestimmten Stelle abbricht, sollte auch dies begründet werden können, wenn man sich keinen Willkürvorwurf zuziehen möchte. Aber dann beginnt der Begründungsregress aufs Neue. Es gibt offenbar keinen archimedischen Punkt für die menschliche Vernunft. Wir stehen, rein weltlich betrachtet, auf äußerst brüchigen Fundamenten.

Vermutlich ist dieses Problem der Begründung, neben anderen, psychologischen Faktoren, ein wichtiges Motiv für sogenannte antirealistische Auffassungen, wie sie etwa auch im Umkreis der oben erwähnten postmodernen kulturwissenschaftlichen Strömungen zu finden sind. Diesen Auffassungen zufolge gibt es für uns eben keinen gesicherten Zugang zu einer objektiven Realität. Teilweise wird sogar die Existenz einer vom menschlichen Denken unabhängigen, objektiv strukturierten Realität infrage gestellt. Aber jeder radikale Wahrheitsskeptizismus ist, sofern er für sich selbst beansprucht, wahr zu sein, selbstwidersprüchlich.

Relativ oder subjektiv wahr

Um also nicht in einen völligen Skeptizismus abzugleiten, wird häufig der herkömmliche Wahrheitsbegriff umgedeutet; etwa in der Weise, dass man die Wahrheit einer Aussage davon abhängig macht, ob eine Person oder eine Gemeinschaft (vielleicht unter idealisierten Bedingungen) diese Aussage für wahr hält oder nicht. Absolute Wahrheit ist in dieser Sicht zwar unmöglich, doch kann es mehr oder weniger sicher begründbare "relative" oder "subjektive" Wahrheiten geben.

Wahrheit gibt es aber nur im Plural, wie uns etwa ein radikaler Konstruktivismus oder ein Kulturrelativismus weismachen möchte. Und über angeblich letzte Voraussetzungen kann man sich dann nicht rational verständigen, weil es keine übergreifende Wahrheit mehr gibt. Es gibt dann nur noch, wie William Warren Bartley (1934-1990) kritisiert hat, die blinde "Flucht ins Engagement". Dass eine solche Sichtweise dogmatische und irrationalistische Tendenzen mit sich bringt, scheint klar zu sein. Ein derartiger "Mythos des Rahmens" ist geeignet, Gewalt und Krieg zu begünstigen.

Gibt es Alternativen? Die Suche nach Wahrheit und unser Bedürfnis nach Gewissheit scheinen sich nicht gut zu vertragen. Die Problemsituation ändert sich jedoch grundlegend, wenn man, wie dies etwa im kritischen Rationalismus geschieht, die Wahrheitssuche abkoppelt von der Suche nach letzten Begründungen. Mit anderen Worten: Wir können absolut wahre Überzeugungen haben, aber wir können uns nicht absolut sicher sein, dass sie auch tatsächlich wahr sind. Es gibt keine Wahrheitsgarantien. Selbst unser bestes Wissen bleibt stets mehr oder weniger vernünftiges Vermutungswissen, das sich als nachträglich problematisch herausstellen kann.

In dieser Sicht besteht aber kein Grund mehr, an der Möglichkeit objektiver Wahrheitserkenntnis zu zweifeln, auch wenn wir wissen, dass wir uns immer täuschen können. Die Fehlbarkeit des Menschen setzt Wahrheit und damit auch eine erkenntnisunabhängige, objektiv strukturierte Realität als einen absoluten Maßstab sogar voraus. Der Realismus kann als eine mit unserem Alltagsverständnis kompatible metaphysische These verstanden werden, welche die menschliche Erkenntnispraxis am besten erklärt.

Objektive Wahrheit haben wir aber nicht gleichsam in der Tasche, sie ist eher eine regulative Idee, die unser Denken leitet und die mit der Darstellungsfunktion unserer Sprache zusammenhängt. Und ohne diese regulative Idee kann es auch keine wirklich kritische Haltung geben: Durch kritische Prüfung und Diskussion haben wir die Chance, Irrtümer zu überwinden und der Wahrheit näherzukommen. Das gilt auch für unsere moralischen und politischen Überzeugungen.

Versuch und Irrtum

An diesem Beispiel könnte deutlich werden, dass es zwischen Philosophie und Politik interessante Zusammenhänge gibt. Der kritische Rationalismus beschränkt sich ja auch nicht auf die Behandlung wissenschaftstheoretischer und erkenntnistheoretischer Fragen, sondern schlägt eine Methode rationaler Problemlösung für alle Bereiche des menschlichen Lebens vor: Konstruktion und Kritik, Versuch und Irrtum. Es geht darum, in kreativer Weise Problemlösungsversuche zu erfinden und diese dann möglichst streng zu prüfen und mit alternativen Problemlösungsversuchen zu vergleichen. Traditionen werden dabei als Anknüpfungspunkte für weiterführende Problemlösungen geschätzt.

Jede "kritische Phase" setzt eine "dogmatische Phase" voraus. Der kritische Rationalismus impliziert somit den Entwurf einer Lebensweise und manifestiert sich in der Haltung selbstkritischer Vernunft und Diskussionsbereitschaft, eine Haltung, die Karl Popper (1902-1994) so zusammenfasst: "I may be wrong and you may be right, and by an effort, we may get nearer to the truth." Dabei werden Tugenden vorausgesetzt wie Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit, Offenheit für kritische Diskussion, Ansprechbarkeit für rationale Argumente, Realitätssinn, Klarheit bzw. Einfachheit im Sprechen und Schreiben, Lernbereitschaft, Toleranz und Ambiguitätstoleranz, Denken in Alternativen, Kreativität und Fantasie, sowohl intellektuelle Kühnheit als auch intellektuelle Demut usw.

Diese Tugenden scheinen leider nicht sehr verbreitet zu sein, gerade auch nicht bei Leuten, die meinen, den Ton angeben zu müssen. Umso wichtiger ist es deshalb, die institutionellen Voraussetzungen für kritischen Vernunftgebrauch wirksam zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Die Möglichkeit einer wenigstens annähernd offenen Gesellschaft hängt nicht zuletzt davon ab. (Robert Deinhammer, 2.6.2017)